
Im Fußball, das sagen sogar die Akademiker dieses Sports, kann das Stadion manchmal einen Unterschied machen. Und im deutschen Fußball gibt es ein Stadion, das einen größeren Unterschied machen kann als die anderen: das Westfalenstadion in Dortmund.
Als der Schiedsrichter Szymon Marciniak dort am Sonntagabend das entscheidende Spiel um den Einzug ins Final Four der Nations League anpfeift, weiß man schon mit einem Blick auf die Südtribüne, warum der Deutsche Fußball-Bund sich für diesen Anlass dieses Stadion ausgesucht hat.
Und als der deutsche Nationalspieler Maximilian Mittelstädt nach nicht einmal 20 Sekunden vor der Südtribüne in den italienischen Strafraum stürmt und den Ball über das italienische Tor schießt, hört man dieses Geräusch, das man im unterschiedmachenden Stadion immer hört: Roar!
Das Westfalenstadion, das kann man im Kontext dieser Woche sagen, ist die deutsche Antwort auf San Siro.
Deutschland drängt und stürmt
Dort, in dem genauso großartigen Stadion in Mailand, hat die deutsche Nationalmannschaft das Hinspiel gegen Italien am Donnerstag mit 2:1 gewonnen. Dadurch kann sie in Dortmund schon mit einem Unentschieden erstmals das Final Four erreichen. Doch sie spielt nicht auf Unentschieden, sie stürmt und drängt, drängt und stürmt. Dann steht’s 1:0. Dann steht’s 2:0. Dann steht’s 3:0. Dann ist Halbzeit. Das Stadion macht Roar! Das war’s, oder?
Nein, noch nicht. In der 49. Minute schießt der italienische Mittelstürmer Moise Kean das 1:3 und in der 69. Minute das 2:3. Im Stadion hört man das erste Mal: „Italia, Italia!“ Die deutsche Mannschaft drängt und stürmt zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr.
Sie spielt nicht mehr darum zu gewinnen, sondern darum, nicht noch alles zu verlieren. Was gerade noch so gut geht: In der Nachspielzeit schießen die Italiener das 3:3 – und haben sogar die Möglichkeit, das 4:3 zu schießen. Flanke Nicolò Barella, aber keiner kommt dran. Das war’s dann wirklich.
Die Deutschen verteidigen den Vorsprung – und werden im Juni gegen Portugal um das Finale der Nations League spielen. Das Spiel wird dann nicht in Dortmund, sondern entweder in München oder in Stuttgart stattfinden. Doch so einflussreich das Westfalenstadion wieder war, den größeren Einfluss hatte an diesem Abend zumindest in der ersten Halbzeit ein anderer: Julian Nagelsmann, der Bundestrainer, der Fußballakademiker.
Italiener unter Druck
In San Siro, so würde das wohl nicht nur Nagelsmann sehen, hat seine Mannschaft einen 0:1-Rückstand gedreht, weil seine Anpassungen die richtigen waren. Er wechselte nach den ersten 45 Minuten, die unterdurchschnittlich waren, Nico Schlotterbeck und Tim Kleindienst ein. Und er sah in den zweiten 45 Minuten, wie Schlotterbeck als Linksverteidiger „brutal dazwischengefegt“ und Kleindienst als Mittelstürmer schnell das 1:1 geschossen hat.
Im Westfalenstadion stehen dann sowohl Schlotterbeck als auch Kleindienst in der Startformation der deutschen Mannschaft, die Nagelsmann mit einer neuen Grundordnung ins Spiel schickt: mit einer Dreierkette (Rüdiger, Tah, Schlotterbeck). Und mit einem neuen Mann in der Mittelfeldmitte.
Es ist Angelo Stiller, der Sechser aus Stuttgart, der mit seiner Ball- und Passsicherheit sehr zur deutschen Dominanz in der ersten Spielhälfte beiträgt. Er ist dann auch an dem wohl schönsten Spielzug des Abends beteiligt, der zum 1:0 führt. An der eigenen Strafraumgrenze passt Joshua Kimmich auf Stiller, der sich gut freigelaufen hat.
Dann passt Stiller zu Goretzka, der in den Strafraum zu Kleindienst passt, der gefoult wird. Strafstoß. Und Kimmich schießt so genau, dass auch Gianluigi Donnarumma, den 1,96-Meter-Mann, mit den Händen nicht drankommt.
Die Deutschen setzen die Italiener mit ihrem Pressing so unter Druck, dass diese den Ball immer wieder hoch in die Hälfte der Deutschen schießen müssen, wo Rüdiger, Tah und Schlotterbeck mit ihrer Körperlichkeit die Kontrolle haben.
Plötzlicher Energie- und Kontrollverlust
In der 36. Minute dann eine Szene, die man sehr selten sieht: Eckball für Deutschland, der Torhüter Donnarumma geht aus dem Fünfmeterraum und spricht mit seiner Abwehr. In dem Moment steht Musiala alleine am Fünfmeterraum, schaut zu Kimmich, der bereits an der Eckfahne steht und den Ball sofort in die Mitte schießt, wo Musiala ihn ins leere Tore schießen kann. 2:0.
In der Nachspielzeit der ersten Spielhälfte die nächste Kimmich-Torbeteiligung: Er sprintet in den Strafraum und lupft den Ball in die Mitte, wo ihn Kleinstdienst ins Tor köpft. Donnarumma wischt ihn mit dem Handschuh aus dem Tor, aber da war der Ball schon über der Torlinie. 3:0. Eine sehr energievolle, eine sehr kontrollierte erste Halbzeit. Eine sehr gute also.

Doch auf die Energie folgt der Energieverlust, auf die Kontrolle folgt der Kontrollverlust. Das fängt mit einem Fehlpass Leroy Sanés und mit einem Schuss Keans an, 1:3. Im Westfalenstadion hört man weiter die deutschen Fußballfans. Und doch es sind die italienischen Fußballer, die das Spiel machen.
In der 63. Minute reagiert der Bundestrainer und wechselt Pascal Groß, Nadiem Amiri und Karim Adeyemi für Stiller, Goretzka und Sané ein. Doch dann schießt Kean im Duell mit Tah das 2:3. Und als Schlotterbeck in der 74. Spielminute im Strafraum grätscht, Giovanni di Lorenzo fällt und Schiedsrichter Marciniak pfeift, hört man im Stadion auf einmal: „Italia, Italia“.
Der deutsche Torhüter Oliver Baumann klopft die Stollen seiner Schuhe schon am Pfosten ab, als Schiedsrichter Marciniak an die Seitenlinie geht und schaut sich die Szene nochmal an. Darauf entscheidet er: doch kein Strafstoß – und damit doch kein Drama?
Doch, weil Donnarumma einen Freistoß von Kimmich pariert (82. Minute) und es in der Nachspielzeit auf Hinweis des Videoschiedsrichters doch noch Strafstoß für Italien gibt. Mittelstädt hatte den Ball mit der Hand berührt. Im Duell mit Baumann siegt Giacomo Raspadori. 3:3. Zweimal spielen die Italiener den Ball noch in den deutschen Strafraum. Dann pfeift Marciniak ab.
Das Westfalenstadion atmet auf.