
Frankreich muss bei der U21-EM auf viele gute Spieler verzichten – und bleibt dennoch Frankreich. Im Halbfinale wird sich daher zeigen, wie gut Deutschland wirklich ist.
Am späten Sonntagabend fingen Fernsehkameras auf der Tribüne eines sehr kleinen Stadions in der Slowakei zwei Männer ein, die einst an einem der größten Erfolge in der Geschichte des italienischen Fußballs beteiligt waren. Diesmal wurden sie Zeuge eines Misserfolgs. Links saß einer im schwarzen Anzug: Gennaro Gattuso, 47, seit wenigen Tagen Nationaltrainer Italiens. Rechts neben ihm kauerte Gianluigi Buffon, 47, der Teamkoordinator der Nationalmannschaft. Auch er trug schwarz.
Als aktive Fußballer waren der Sechser Gattuso und der Torhüter Buffon 2006 gemeinsam Weltmeister geworden. Nun besteht ihre Aufgabe nicht mehr darin, gegnerische Spielmacher zu ärgern oder die unmöglichsten Bälle zu halten. Sie sollen Italiens Fußball aus einer tristen Gegenwart in eine glanzvolle Zukunft führen. So kam es, dass sie nebeneinander in einer Loge saßen und beobachteten, wie Italiens personell dezimierte U21 im Viertelfinale der EM gegen Deutschland zwei Tore erzielte, aber drei kassierte. Italien ist raus, für Gattuso und Buffon sind das keine guten Nachrichten.
Nagelsmann schaut der U21 aus der Ferne zu
Für den deutschen Fußball sind es hingegen ziemlich gute Nachrichten. Am Mittwoch (25.06.2025, ab 21 Uhr im Live-Ticker) trifft Deutschland im Halbfinale auf Frankreich, es wäre auch ein würdiges Finale. Vermutlich werden dann wieder gut informierte Menschen beim Fernsehen auf den Tribünen nach bekannten Gesichtern suchen. Die Italiener Gattuso und Buffon dürften sie nicht finden. Vielleicht finden sie dafür Rudi Völler, den Sportdirektor des DFB. Er war nicht nur beim Sieg gegen Italien im Stadion.
Suchen werden sie sicher auch nach Julian Nagelsmann – vermutlich ohne Erfolg. Von ihm gibt es keine Fotos, die ihn auf den Tribünen slowakischer Stadien zeigen. Nicht alle finden das gut. Doch beim DFB finden sie nicht die Abwesenheit ihres Bundestrainers beim wichtigsten Nachwuchsturnier verwerflich, sondern die Diskussion darüber.
Das sei „ein bisschen ein deutsches Phänomen“, sagte Geschäftsführer Andreas Rettig dem Sender „Sky“. Er verwies auf Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps und Englands Coach Thomas Tuchel, die in der Slowakei auch noch niemand gesehen hat. Und Völler erzählte, dass er regelmäßig mit Nagelsmann spreche, auch über die U21. Zu einem Finale werde der Bundestrainer selbstverständlich anreisen.
Ohne Doué und Cherki – bei Frankreich steht nun Tel im Rampenlicht
Doch vor dem Finale ist erst einmal Halbfinale, so will es die Turnier-Logik. Ein Besuch könnte sich für Nagelsmann auch dann schon lohnen. Frankreich ist da kein übermächtiger Gegner, zumal der Trainer Gérald Baticle, 55, auf seine talentiertesten Spieler verzichten muss. Désiré Doué und Bradley Barcola, die mit Paris Saint-Germain gerade die Champions League gewonnen haben, sind nicht dabei. Rayan Cherki, den Pep Guardiola zu Manchester City gelockt hat, fehlt ebenfalls. Sie schwitzen lieber bei der Klub-WM. Auch Stuttgarts Enzo Millot (familiäre Gründe) und Frankfurts Hugo Ekitiké (Rückenprobleme) sind nicht dabei.
Auf ihre Dribblings und Pässe, Vorlagen und Tore müssen sie bei Frankreichs U21 verzichten. Deshalb sind nun Spieler gefragt, die sonst manchmal übersehen werden: Castello Lukeba von RB Leipzig und Kapitän Chrislain Matsima vom FC Augsburg sind vielleicht das stärkste Innenverteidigerduo bei dieser Endrunde. Auch der Schlüsselspieler im Mittelfeld ist keiner, der sich über Übersteiger definiert: Fußball spielt Lucien Agoumé vom FC Sevilla ohne Schnörkel, er verliert selten den Überblick, aber erobert oft den Ball.
Und dann ist da noch Mathys Tel, über den sie beim FC Bayern mal dachten, er werde der nächste Arjen Robben oder gleich Robert Lewandowski. Mal planten sie ihn als Flügelspieler ein, dann spielte er wieder im Angriffszentrum. Tel ist weder Robben noch Lewandowski geworden, er spielt seit einem halben Jahr für Tottenham und nicht mehr in München. In Frankreichs U21 aber ist er der Hoffnungsträger in der Offensive. Sie setzen dort auf seine Dribblings, die Läufe in die Tiefe und auf seine Tore – zwei sind es bislang bei dieser Endrunde.
Woltemade, der spielmachende Torjäger der U21
Eine „Top-Nation“ sei Frankreich auch dann, wenn wichtige Spieler fehlten, sagte Antonio Di Salvo, 46, Trainer der deutschen U21. Vielleicht hat er in diesem Moment ganz kurz auch an seinen eigenen Kader gedacht. Auch ihm fehlen einige wichtige Spieler: Maximilian Beier spielt mit Borussia Dortmund die Klub-WM, Jonas Urbig erlebt sie als zweiter Torhüter des FC Bayern von der Ersatzbank aus.
Es ist noch nicht lange her, dass die U21 zuletzt gegen Frankreich gespielt hat. Im November traf Beier zweimal, doch am Ende hieß es 2:2. Für die Tore müssen nun andere sorgen. Es wird beim Wiedersehen auch auf Nick Woltemade ankommen, den spielmachenden Torjäger (5 Turniertore), der auf staksigen Beine aubenteuerliche Tricks vollführt. Ihn hat längst auch der Bundestrainer Nagelsmann für sich entdeckt. Vor der U21-EM hat Woltemade mit der A-Nationalmannschaft das Final Four in der Nations League gespielt.
Nur besteht die U21 aber nicht nur aus Woltemade, für sie spielen einige Spieler, die irgendwann auch für Nagelsmann interessant werden könnten. Die Dribbler Brajan Gruda und Paul Nebel können Spiele mit einer Aktion entscheiden, als Linksverteidiger überzeugt Nathaniel Brown auch mit seinen Vorstößen, und Noah Atubolu ist ein Torhüter, der irgendwann einmal Marc-André ter Stegen ablösen könnte.
Doch erst einmal arbeiten sie alle gemeinsam daran, den Bundestrainer Nagelsmann zu einem Besuch in der Slowakei zu zwingen. „Wir sind jetzt im Halbfinale“, sagt der Trainer Di Salvo. „Wenn wir jetzt nicht an das Finale und den Titel denken, wäre das schon komisch.“