Der Schriftsteller Castle Freeman aus Vermont wird 70

Castle Freeman ist bis heute ein Außenseiter im amerikanischen Literaturbetrieb. Er lebt auch nicht dort, wo alle Schriftsteller leben, in Brooklyn oder Kalifornien, sondern bei den Hinterwäldlern, in Vermont. Neuengland ist das literarische Terrain des 1944 in Texas geborenen Autors. Die Region nördlich von New York, seit 1974 Heimat des Autors, ist berühmt für ihre Berge, ihren Ahornsirup und Bernie Sanders. Doch malerische Ecken wird man in Freemans Büchern vergeblich suchen. Stattdessen erzählen sie lakonisch und abgründig von einem country for old men.

Seine Welt, die deindustrialisierte amerikanische Provinz, die beim Me­tropolen-Hopping meist überflogen wird, ist voller Agonie und Trostlosigkeit. Das Leben besteht aus Armut, Langeweile und Gewalt. Um Amerika besser zu verstehen, lohnt es sich, Freemans Romane zu lesen, zum Beispiel „Go with me“ von 2008, so etwas wie die Hillbilly-Version einer griechischen Tragödie, die 2016 mit Anthony Hopkins verfilmt wurde und im selben Jahr unter dem Titel „Männer mit Erfahrung“ auf Deutsch erschien.

Die „Woodchucks“ von Vermont

Darin wollen eine junge Frau, ein alter Mann und ein beschränkter Riese dem übelsten Kerl der Gegend das Handwerk legen. Die märchenhafte Szenerie wird von einem Chor begleitet, der wie bei Aischylos das Geschehen kommentiert. Hier besteht er aus alten Männern, die in der stillgelegten Fabrik herumsitzen, trinken, Karten spielen und sich Geschichten erzählen. „Woodchucks“ nennt man solche Typen in Vermont, Murmeltiere. Und es ist dieses permanente Murmeln, das dem Autor die Gelegenheit gibt, vom Niedergang zu erzählen. Denn zwischen den Sommerhäusern reicher New Yorker und Sozialhilfeempfängern ist kein Platz mehr für Arbeiter und kleine Angestellte. Läden und Fabriken sind geschlossen, weil sie auf dem internationalen Markt nicht mehr konkurrenzfähig sind. Die Globalisierung ist über sie hinweggefegt.

Freeman zeichnet ein insulares Amerika, das von wachsender Ungleichheit und abgeschotteten Klassen geprägt ist. Im schlimmsten Fall gerät es jenseits von Recht und Ordnung, weil Selbstjustiz herrscht, wenn der Sheriff nicht mehr eingreifen will, da er sich mit den falschen Leuten eingelassen hat. In Freemans knapper Prosa schlagen Sätze mitunter quer wie verirrte Pistolenkugeln. Alle reden aneinander vorbei oder antworten auf Fragen mit Gegenfragen. Die Dialoge sind ungeschliffen. Es gibt kaum Beschreibungen, kein Wort ist zu viel. Atmosphärisch erinnert das an Filme wie „Fargo“ oder „Twin Peaks“ oder an die Western von Cormac McCarthy. Dass sich Lesevergnügen bei diesen sehr amerikanischen Sujets auch in der deutschen Fassung einstellt, liegt an Dirk van Gunsteren, der für alle Romane Freemans wesensgleiche Entsprechungen gefunden hat.

So auch für den skurrilen Roman „Auf die sanfte Tour“ (2017), der aufs Neue in eine der trostlosen Kleinstädte Vermonts führt. Die Geschichte handelt von einem Sheriff alter Schule, über den die Zeit hinweggegangen scheint. Dabei ist er klug und besonnen. Sein Trick: Er gibt sich als dümmer aus, als er ist. Die Probleme will er auf seine Weise regeln, nicht wie sein junger, ehrgeiziger Deputy. Er handelt vielmehr, indem er möglichst wenig eingreift: „Manchmal muss man den Dingen Gelegenheit geben, sich zu entwickeln“, ist er überzeugt. Nichtdialoge treiben die schräge Story voran, und die Lakonik schmeckt wie trockener Sherry. Am heutigen Dienstag wird Castle Freemann siebzig Jahre alt.