Der Preisschock trifft die ärmere Bevölkerung


Wieder einmal herrscht in Russland Empörung über ein teurer gewordenes Lebensmittel: Dieses Mal geht es um die Kartoffel und damit um eine der wichtigsten Zutaten der russischen Alltagsküche. Sie gehört in die Rote-Bete-Suppe Borschtsch und, zu Püree verarbeitet, mit Frikadelle in ein Standardmittagessen für Kinder. Mitte Mai kostete ein Kilogramm Kartoffeln im Landesdurchschnitt nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat umgerechnet rund einen Euro, gegenüber rund 38 Cent im Mai vor einem Jahr – ein Preisanstieg von gut 160 Prozent.

Zwar sind die Regale zumindest in den Moskauer Supermärkten voll. Doch vieles ist Importware aus Ägypten, China, Pakistan oder Aserbaidschan. Die günstigeren russischen Kartoffeln seien oft faulig, mit schwarzen Flecken und Einschnitten, sagt die Moskauer Rentnerin Vera, die eigentlich anders heißt, der F.A.Z.: Sie kaufe auf dem Markt ein, dort sei die Qualität besser, das Kilo koste dort aber auch bis zu 1,30 Euro.

Das in russischen Medien als „Kartoffelkrise“ betitelte Phänomen folgt auf zwei ähnliche Fälle, die „Eierkrise“ und die „Butterkrise“. Im Dezember 2023 war es zu Engpässen bei Eiern gekommen, die für das wichtige Neujahrsfest unerlässlich sind. Vor Marktständen bildeten sich lange Schlangen. Präsident Wladimir Putin musste sich im Fernsehen bei einer klagenden Rentnerin für die Probleme entschuldigen. Im vergangenen November waren dann die Butterpreise so schnell gestiegen, dass es zu Diebstählen kam und die Butter in manchen Läden in Sonderkühlschränke eingeschlossen wurde.

Sanktionen und Inflation treiben Preise weiter nach oben

Dass es nun die Kartoffeln trifft, liegt zum Teil an denselben Gründen wie bei Butter und Eiern: Importe, auf die Russlands Landwirtschaft in vielen Bereichen angewiesen ist, sind durch die westlichen Sanktionen wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine erschwert und verteuert worden. Zugleich treffen die gesamte zivile Wirtschaft und damit auch den ­Agrarsektor die stark gestiegenen Kreditkosten. Denn die Zentralbank versucht, mit einem hohen Leitzins die Inflation zu bekämpfen, die vor allem durch die immensen Staatsausgaben für die Rüstung befeuert wird und die derzeit offiziell bei 9,8 Prozent liegt. Zwar ist das schon eine Verbesserung zum März und April, als sie bei mehr als 10 Prozent lag, weshalb die Zentralbank den Zinssatz am vergangenen Freitag erstmals seit knapp drei Jahren senkte – von 21 auf 20 Prozent. Doch verlangsamt die Teuerung sich vor allem wegen des derzeit starken Rubels, der ­importierte Gebrauchsgüter günstiger macht. Die Preise vieler Lebensmittel dagegen steigen weiter.

Zur schlechten finanziellen Lage der Landwirte kam 2024 noch eine miserable Kartoffelernte, die um gut 12 Prozent geringer ausfiel als im Vorjahr. Das lag vor allem an Trockenheit, aber auch an einer kleineren Anbaufläche. 2023 hatte eine Rekordernte die Preise so verdorben, dass viele Bauern in der Folgesaison lieber Ölsaaten und Zuckerrüben pflanzten. So ist die Kartoffelkrise, anders als die Butterkrise, eine lokale: Während die Butterpreise nach wie vor global hoch sind, sind Kartoffeln in Russland teurer als in den meisten anderen Ländern.

Das Kartoffeldefizit kam Ende Mai bei einem Treffen Putins mit Unternehmern zur Sprache. Allerdings schien der Präsident nicht im Bilde zu sein, welche Kreise das Problem bereits zieht. Man könne natürlich in Belarus Kartoffeln kaufen, sagte Putin lächelnd, dort gebe es „große Kartoffelspezialisten“. Als ihn Maxim Oreschkin, einer der stellvertretenden Leiter seiner Präsidialverwaltung, mit ernster Miene darauf hinwies, dass auch in Belarus keine Kartoffeln mehr zu haben seien, wirkte Putin überrascht. Dabei sind aus dem kleinen Nachbarland seit Monaten Klagen darüber zu hören, dass wegen der lukrativeren Verkäufe an Russland nur ungenießbare Ware zurückbleibe. Machthaber Alexandr Lukaschenko hat das Problem schon im Februar öffentlich benannt. Im April hob die Regierung in Minsk den maximalen Verkaufspreis für Kartoffeln um gut ein Drittel an, um mehr Knollen im Land zu halten.

Importe als Übergangslösung

Russland hat längst andere Quellen gefunden, die Importe aus Ägypten, Pakistan und selbst aus der Mongolei sind deutlich gestiegen. So soll die Zeit überbrückt werden, bis die neue Ernte eingefahren ist. Mit Eiern aus der Türkei und Butter aus den Vereinigten Arabischen Emiraten waren auch die früheren Krisen zumindest oberflächlich gelöst worden. Und obwohl die schlechte Ernte nun vor allem die ärmsten Schichten trifft – auch andere, einfache Gemüse wie Zwiebeln sind im Jahresvergleich um 80 Prozent teurer geworden –, gibt es weiterhin keine Anzeichen für echten Unmut in der Gesellschaft. Zwar beschäftigt die Inflation die Russen seit Jahren: Wenn das unabhängige, als „ausländischer Agent“ gebrandmarkte Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum die Menschen fragt, was sie für das größte Problem halten, ist das nie der Krieg gegen die Ukraine, sondern immer die Teuerung.

Das könnte teilweise mit Angst zu tun haben, weil das Schimpfen über hohe Preise ungefährlich ist im Vergleich zu Kritik am Krieg, den eine große Mehrheit überdies unterstützt. Doch lasten die wenigsten Russen die Teuerung dem Präsidenten an. Viele glauben die Kreml-Erzählung, die wirtschaftlichen Probleme seien notwendiger Teil eines Verteidigungskampfs gegen einen aggressiven Westen, der Russland in die Knie zwingen wolle.

Hinzu kommt, dass nicht alle Russen gleichermaßen unter der Inflation leiden. Viele schätzen ihre materielle Lage derzeit sogar besser ein als vor Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. Das sind etwa Familien von Soldaten, die häufig aus besonders armen Gegenden stammen und viel Geld für den Einsatz bekommen, aber auch Angestellte in der Rüstungsindustrie und anderen Branchen, die für den Krieg produzieren. Im vergangenen Jahr sind die inflationsbereinigten Realeinkommen um mehr als acht Prozent gestiegen. Allerdings zeigt sich inzwischen wegen des hohen Leitzinses und niedriger Ölpreise eine deutliche Abkühlung der Wirtschaft, die von der Führung gewollt ist, um die Inflation zu bremsen. Das Bruttoinlandsprodukt ist im ersten Quartal nur noch um 1,4 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal gewachsen, auch die Realeinkommen stiegen nur noch um 7,5 Prozent. Es dürfte allerdings noch dauern, bis sich dies bei den meisten Russen bemerkbar macht.

Nicht alle Russen leiden gleich unter der Teuerung

Am ehesten von der Teuerung betroffen sind Staatsangestellte wie Lehrer und Ärzte, deren Gehälter wenn überhaupt nur an die offizielle Inflationsrate angepasst werden, und Rentner. Die Moskauerin Vera erhält nach Jahrzehnten im Staatsdienst eine Rente von umgerechnet knapp 190 Euro. An die Inflation angepasst wird sie nicht, weil Vera noch offiziell – nicht „schwarz“, wie viele andere – als Lehrerin weiterarbeitet. Dafür bekommt sie zusätzlich netto rund 174 Euro im Monat. Allein 144 Euro zahlt sie monatlich für Strom, Nebenkosten und Internet. Auch diese Gebühren würden ständig erhöht, sagt Vera, die wie viele Russen glaubt, dass die Inflation „in der Realität“ deutlich höher sei als die offizielle.

Vera lebt am Moskauer Stadtrand in einem Hochhaus, in dem die meisten Nachbarn Putin unterstützen. Genau wie bei ihrer Arbeit in einer Berufsschule – von 16 Kollegen dort ist sie die einzige, die gegen den Präsidenten und seinen Krieg ist. Die Inflation beschäftige alle, sagt Vera. Aber mit Politik bringe das nur sehr selten jemand in Verbindung, dafür seien die Menschen zu wenig gebildet. Ihre Nachbarn sagten: „Die da oben bekommen ganz andere Gehälter, deshalb kriegen sie nicht mit, wie alles teurer wird.“ Sie selbst versucht zu sparen, wo es nur geht: Fleisch leistet sich Vera nur einmal im Monat.