Der Film „Kingdom“ erzählt realistisch vom Leben in der organisierten Kriminalität

Es ist der Sommer des Jahres 1995, und auf Korsika haben die Ferien begonnen. Würde das rhythmische Zirpen der Grillen nicht jedes andere Geräusch übertönen, könnte man den Boden unter Lesias Schritten knistern hören. Stünde man neben ihr, würde man auch den Schweiß der Männer riechen, mit denen sie auf Wildschweinjagd geht, und den Duft der Suppe, für die das Mädchen den frisch gefangenen Fisch ausgenommen und Gemüse geschnitten hat.

Lesias Vater Pierre-Paul hat ihr gezeigt, wie man sie zubereitet. Das gemeinsame Kochen ist Beziehungsarbeit, denn Pierre-Paul ist ein korsischer Pate, und als solcher hat man naturgemäß nicht viel Zeit für Unternehmungen mit der 15-jährigen Tochter. Durch die Augen des heranwachsenden Mädchens erzählt „Kingdom“ eine Mafiageschichte, die sich so mühelos entwickelt, als hätte der Regisseur Julien Colonna am Drehort alles Nötige schon exakt so vorgefunden. So absehbar ihr crime plot ist, so erfreulich oft erwischt er einen aus dem Hinterhalt. Der Sauerstoff, von dem Colonnas Spielfilmdebüt lebt, steckt aber in der Bindung, die zwischen Lesia und Pierre-Paul wächst, erst beim Jagen und dann vor allem auf der Flucht.

Natürlich hatte Lesia eigene Vorstellungen von ihren Ferien: ausschlafen, an den Strand gehen und andere Teenager auf Partys küssen, während Ace of Base auf dem Dancefloor läuft. Als die Tante sie in das abgelegene Landhaus verfrachten lässt, in dem Pierre-Paul und seine Männer sich gerade verstecken, hält sich ihre Begeisterung entsprechend in Grenzen. Doch bald beginnt Lesia, die Blicke, Besprechungen und Gesten um sich herum nicht länger aus der Distanz zu beobachten. Sie ist dabei, wenn alle sich vor dem Fernseher sammeln, weil die Nachrichten mit dem zerschossenen Auto eines Onkels aufmachen.

Kreuzt die Polizei auf, hechtet sie mit aufs Motorboot, um erst nach Sonnenuntergang wieder an Land zu kommen. Und sie sieht, wie diejenigen, die einen „Job“ erledigen mussten, bei ihrer Rückkehr erst mal wortlos ins kühle Meer tauchen. Als sie den Vater einmal fragt, ob er Angst habe, sagt er: „Wir alle haben Angst. Sie hält uns am Leben.“ Fast klingt es so, als sei das, was hier passiert, unausweichlich.

Der Film

„Kingdom – Die Zeit, die zählt“. Regie: Julien Colonna. Mit Ghjuvanna Benedetti und Saveriu Santucci u. a. Frankreich 2024, 111 Min.

Von den therapeutischen Möglichkeiten, die ein Tony Soprano genutzt hat, wissen oder halten die Mobster in „Kingdom“ nicht viel. Ihre Outfits wirken eher hemdsärmelig als ikonisch, fragwürdige Haarteile tun ein Übriges. Es sind Typen, denen man im Baumarkt begegnen könnte, ohne zu ahnen, wofür sie die gekauften Gartenhandschuhe benutzen werden. Als neue Posterboys des Genres taugen sie kaum. Ihre Gesichter könnten trotzdem locker in Großaufnahme an der Wand einer Galerie prangen.

Acht Monate Straßencasting gingen den Dreharbeiten voraus. Saveriu Santucci und Ghjuvanna Benedetti, die Pierre-Paul und Lesia spielen, sind eigentlich Hirte und angehende Krankenpflegerin. Santucci strahlt angeborene Autorität aus, doch wenn er lächelt, wirkt es, als hätte man kurz in die Mittelmeersonne geblickt. Benedetti hat eines dieser telegenen Gesichter, denen man ewig zusehen und alles glauben will. Dazu steckt eine Ernsthaftigkeit in ihren jugendlichen Zügen, die die Entwicklung, die Lesia durchmacht, genau zu spiegeln scheint.

Colonna weiß, was es bedeutet, auf Korsika als Sohn eines mutmaßlichen Mafiabosses aufzuwachsen

Beobachtet man die beiden beim Fischen oder wenn das Mädchen den Kopf an die Brust des Vaters lehnt, scheint es, als würden die Rollen auf diesen Menschen basieren, und nicht, als würden die sie interpretieren. Authentizität ist per se kein Qualitätsmerkmal im Film. Wenn Schauspieler vor der Kamera aber so waschecht auftreten, als wären sie sich der eigenen Wirkung kaum bewusst, ist es schon ein besonderes Vergnügen, dabei zuzusehen. Lediglich beim Stimmtraining hätte man ihnen etwas mehr Zeit gewünscht.

Nicht nur die mutige Besetzung verleiht Collonas Film seine realness. Man spürt, dass er das Leben auf der Insel kennt: ihre Menschen, Straßen und Buchten, die Sprache bis hin zur Musik, die im lokalen Radio läuft. Und er weiß, was es bedeutet, hier als Sohn eines mutmaßlichen Mafiabosses aufzuwachsen. Der Regisseur war selbst noch jung, als Korsika in den neunziger Jahren von besonders schweren Bandenkriegen geprägt war und sein Vater Jean-Jérôme Colonna starb.

Diese Biografie wird dazu beigetragen haben, dass „Kingdom“ vor allem von den Entbehrungen eines Lebens in der organisierten Kriminalität erzählt. Er steckt voller zarter Momente, aber auch voller Väter, die bei näherer Betrachtung ziemlich kaputt sind. Weil eine gewisse Betriebsblindheit zum Kindsein dazu gehört, suchen die Kinder die Anerkennung dieser Väter trotzdem. Als Lesia von einer Freundin Pierre-Pauls als gute Jägerin gelobt wird, sagt sie: „Ich mochte das Jagen nie. Ich tue es nur, um mehr Zeit mit ihm zu verbringen.“ Nicht nur Kinder, deren Väter in der Mafia tätig sind, werden das nachempfinden können.