Den Winter in Brasilien erleben

Vor dem „Snowland“ in Gramado hat sich eine lange Schlange gebildet. Brasilianische Frauen und Männer in dicken Jacken, mit Mützen und Schals warten darauf, in den ersten und einzigen Indoor-Schneepark Brasiliens und Südamerikas eingelassen zu werden. Unter ihnen: der neunjährige Lourenço Brito.

Er sitzt auf einer Bank, den Schal bis über die Nase gezogen. Mutter Ariane hat ihn im Internet gekauft. „Bei uns gibt es das in Läden nicht. Und selbst so spüre ich die Kälte“, sagt sie. Ariane Brito, Mann Alex, die Kinder Lourenço und der dreijährige Arthur sind aus der Amazonas-Metropole Manaus für drei Tage nach Gramado gekommen.

Für sie und viele andere Brasilianer ist das von deutschsprachigen Einwanderern geprägte Gramado auf 830 Meter Höhe in dem Mittelgebirge „Serra Gaúcha“ exotisch. In dem besonders in der Weihnachtszeit beliebten Reiseziel kann man auf „neve de verdade“, „echtem Schnee“, skifahren und weihnachtliche Atmosphäre erleben.

Lucas Schuvartz aus Nova Ubiratã im Bundesstaat Mato Grosso, mit Freunden hier, sagt: „Die Stadt ist schön, einmalig in Brasilien. Klima, Vegetation, Architektur – alles unterscheidet sich. Das ist eine andere Realität. Fast als wären wir nicht in Brasilien.“ Gramado nimmt wie Disneyland mit in eine magische Welt.

Hier gibt es keine Ampeln, Fußgänger überqueren die Straße über den Zebrastreifen. Die Stadt, in der im August das wichtigste Filmfestival Brasiliens stattfindet, wirkt wie ein Touristenort im Schwarzwald oder in den Alpen. São Leopoldo am Fuße der „Serra Gaúcha“ gilt als „Wiege der deutschsprachigen Einwanderung“ in Brasilien. 39 Migranten, unter anderem aus dem Rheinland, kamen hier vor mehr als 200 Jahren an. Sie gründeten die erste dauerhafte Niederlassung deutschsprachiger Einwanderer. Einige zogen später die „Serra Gaúcha“ hinauf und besiedelten die Gegend. Die Nachkommen bewahren das Erbe; zeigen, dass man seine Wurzeln nie verliert. Das als bestes brasilianisches und südamerikanisches ausgezeichnete Hotel „Ritta Höppner“ sieht mit Satteldach, Lüftlmalerei und Maibaum aus wie in Süddeutschland, Österreich oder der Schweiz.

Namensgeberin Ritta wurde als Deutsch-Brasilianerin in Rio Grande do Sul geboren und wuchs in Deutschland auf; Tochter Adriana Höppner erzählt bei Kartoffelsuppe im Restaurant, das auch Eisbein, Schnitzel und Apfelstrudel serviert: „Wir sind regelmäßig nach Füssen gereist, wo Freunde ebenfalls ein Hotel betreiben.“ Daher das Foto von Neuschwanstein und die Edelweiß-Dekoration.

Im Laufe der Entwicklung von einer Sommerzuflucht für (wohlhabende) Bewohner von Porto Alegre zu einer der wichtigsten Touristen-Destinationen Brasiliens hat sich Gramado bewusst auf dieses Erbe besonnen. Nun kommen die Menschen aus Brasilien her, um die eleganten Shopping­straßen entlang zu flanieren, hier produzierte Schokolade und Wein zu kaufen, üppiges Frühstück nach Art der Immigranten und Schweizer Fondue zu essen, heiße Schokolade zu trinken – und Kälte zu erleben. Wenn das Thermometer vor der Kathe­drale nicht unter zehn Grad zeigt, schafft „Snowland“ Abhilfe. Das ist sonst nur im Juli der Fall. Dann ist auf der Südhalbkugel Winter.

Der Weg führt Lourenço Brito und seine Familie erst durch einen Laden, der warme Kleidung verkauft. Dort gibt es einen Bereich, in dem man Jacke, Hose, Schuhe und Handschuhe ausleihen kann, als würde man in Garmisch-Partenkirchen oder in der Zugspitz Arena Skifahren gehen. Dick eingemummt in die wärmste Schneekleidung, die man wohl in Brasilien bekommt, betritt die Familie Brito endlich eine Halle mit Skipiste, die Hauptattraktion des Parks. Dort ist es bis zu minus fünf Grad kalt.

Lourenço, Bruder Arthur, Mutter Ariane und Vater Alex rutschen die Piste auf riesigen Reifen herunter. Lourenço und Arthur erkunden auch das Schloss, das die Kinder in eine Märchenlandschaft versetzt. Von europäischen Berg­dörfern inspiriert ist die „Vila Alpina“. Familie Brito zieht die Handschuhe aus und trinkt heiße Schokolade. Denn Gramado ist Brasiliens Schokoladen-Hauptstadt. Mehr als 20 Schokoladen-Fabriken gibt es heute hier. Die erste, „Prawer Chocolates“, wurde vom aus Polen stammenden Jaime Prawer gegründet.

Vanda Catão, die bei der Festuris, einer der größten Tourismus-Veranstaltungen Brasiliens, die Schweizer Region Titlis und Luzern vertritt, sagt: „Gramado stellt eine perfekte Verbindung mit Europa her. Die Berge haben keinen Schnee, aber eine wunderschöne Natur. Die Gastronomie ist eine Referenz für Fondue und Schokolade.“

Gramado mit seinen 40.000 Einwohnern erwartet allein für diese Weihnachtszeit 2,8 Millionen Besucher. „90 Prozent der Wirtschaft von Gramado basiert auf dem Tourismus, das größte Zugpferd ist Weihnachten“, sagt Tourismus-Sekretär Ricardo Bertolucci. In der Stadt klagt man nicht über Übertourismus, fast alle leben ja davon. Vielmehr will Gramado ihn noch weiter fördern und sein Image als „Europa Brasiliens“ erweitern.

Mit Dutzenden Attraktionen wie „Snowland“ will die Stadt um europäische Besucher werben. Bei „Super Carros“ kann man etwa mit einem Sportwagen ein Stück durch Gramado fahren. „Mini Mundo“ besticht mit Nachbildungen berühmter Gebäude aus Deutschland, Brasilien und aller Welt. Der „Parque Terra Mágica Florybal“ ist eine Mischung aus Schokolade und Fantasie. Natur und Erholung im „Parque do Caracol“ mit gigantischem Wasserfall oder dem bekanntesten Sonnenaufgang der Stadt locken Erholungssuchende. Und der Park „Olivas de Gramado“ produziert ausgezeichnetes Olivenöl.

Noch ist das deutschsprachige Erbe die Hauptattraktion. Ende Oktober hat sich Gramado in ein illuminiertes Weihnachtswunderland verwandelt – ungewöhnlich für das warme Brasilien, wo es etwa in Rio de Janeiro schwierig ist, Weihnachtsatmosphäre zu schaffen. Brasilien ist ein Land mit der Größe und Vielfalt eines ganzen Kontinents. Doch gerade im Süden des Landes ist es aufgrund der Herkunft und der Wurzeln seiner Bewohner möglich, dass Feststimmung aufkommt. Hier legt man viel Wert auf Weihnachten, hat entdeckt, wie gut sich diese Tradition vermarkten lässt – und traf einen Nerv der Brasilianer, die sich gerne wie in Europa fühlen möchten.

Vier Millionen LED-Lichter schmücken beim 40. „Natal Luz“, dem größten Weihnachtsspektakel Brasiliens, wochenlang Häuser, Straßen, Plätze, Kreisverkehre. Die „Praca das Etnias“, auf der Häuser der Einwanderer nachgebildet sind, verwandelt sich in einen Weihnachtsmarkt. Beim „Großen Weihnachtsumzug“ ziehen wie beim Karneval von Rio im Sambodrom bis Mitte Januar festlich geschmückte Wagen und kostümierte Tänzerinnen und Tänzer, die Adventskalender, Nußknacker und Eisbären zum Leben erwecken, über die Avenida das Hortensias. Und die spektakuläre Aufführung „Nativitaten“, eine Mischung aus Lichtern, Musik und Feuerwerk, feiert die Geburt Jesu. Die Zuschauerin Gyslane Felix sagt: „Ich fühle die Energie der Magie. Es ist bezaubernd, all das zu erleben.“