Im Bundestagswahlkampf überbieten sich die
politischen Parteien mit Wahlversprechen. Dabei begegnen die Parteien den Bürgerinnen und Bürgern mit wenig Ehrlichkeit –
obwohl sie ein Fairnessabkommen geschlossen haben. Das ist einer Demokratie nicht
würdig. Und es führt zu Enttäuschung, politischer Lähmung und zunehmender sozialer
Polarisierung. Eine neue Bundesregierung – in
welcher Zusammensetzung auch immer – könnte auch deshalb zum Scheitern
verurteilt sein.
Nur: Wie könnte eine Lösung aussehen, damit Deutschland endlich die
längst überfälligen Reformen umsetzen kann?
Dabei steht Deutschlands Demokratie vor drei großen Dilemmata: Das erste ist die inhaltliche Unvereinbarkeit der
politischen Parteien. Ein Teil der Parteien setzt auf den Markt und will die
Rolle des Staates massiv beschneiden: Steuererhöhungen und höhere Verschuldung
sollen konsequent ausgeschlossen, Steuersenkungen fest verankert werden. Ein
anderer Teil der Parteien will den Staat vergrößern, Sozialleistungen ausweiten und die staatliche Unterstützung für einzelne Industrieunternehmen erhöhen.
Die einen wollen die Sozialsysteme einschränken,
das Bürgergeld abschaffen, Leistungen für arme Familien und Geflüchtete kürzen.
Die anderen wollen Renten und andere Leistungen ausweiten und damit die
Umverteilung von Jung zu Alt verstärken. Auch in der Frage der Identität und der
offenen Gesellschaft könnten die Unterschiede zwischen den demokratischen
Parteien nicht größer sein. Die Ampel hat mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
die Einbürgerung erleichtert. Friedrich
Merz hingegen fordert jetzt sogar die Möglichkeit, bestimmten Gruppen die Staatsbürgerschaft
wieder abzuerkennen.
Ein zweites Dilemma ist die zunehmende soziale
Polarisierung und der Verteilungskampf, der von den Parteien immer stärker angeheizt
wird. Die parteipolitische Argumentation ist von einem Nullsummendenken geprägt,
jeder versucht, die eigene Klientel auf Kosten anderer Gruppen zu stärken.
Es
fehlt an staatsbürgerlicher Verantwortung und an wirtschaftlichen und sozialen Konzepten,
wie das Land als Ganzes reformiert und zukunftsfähig gemacht werden kann. Ohne
breite gesellschaftliche Akzeptanz werden aber viele wichtige Reformen
scheitern – wie die Ampel beispielsweise in der Klima- und Umweltpolitik schmerzlich
erfahren musste.
Das dritte Dilemma sind die völlig unrealistischen
Wahlversprechen der Parteien. Jede Partei verspricht eine massive Erhöhung der
Staatsausgaben – bleibt aber die Antwort schuldig, wie diese finanziert werden sollen. Diese
Unehrlichkeit gipfelt in dem Versprechen, der Staat könne seine Ausgaben für
Bildung, Infrastruktur und Soziales erhöhen und gleichzeitig Steuern und
Abgaben senken sowie Schulden abbauen. Keine der politischen Parteien traut den
Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit zu, dass das Land ohne Verzicht, mutige
Reformen und Abstriche an Besitzständen nicht zukunftsfähig werden kann. Und dass dadurch künftige Generationen einen hohen Preis für unser heutiges
Versagen zahlen werden.
Ehrlichkeit und mutige Reformen
Es gehört zu den Schwächen der Demokratie, dass
grundlegende Veränderungen meist nur dann möglich sind, wenn sich eine
Gesellschaft in einer tiefen Krise befindet. Bundespräsident Roman Herzog
warnte 1997 vor mentaler Depression und gesellschaftlicher Erstarrung, es müsse
ein Ruck durch Deutschland gehen. Es dauerte weitere fünf Jahre, bis
2002 die Reformen der Agenda 2010 beschlossen wurden, und weitere acht Jahre,
bis der Tiefpunkt der Krise für Deutschland als „kranker Mann Europas“ erreicht
war.
Doch diesmal könnte der Preis für Deutschland um ein Vielfaches höher
sein. Das zeigt das Beispiel der USA, wo eine durchaus erfolgreiche Politik
von Präsident Joe Biden die fortschreitende Polarisierung und den Wahlsieg von
Donald Trump nicht verhindern konnte. In Deutschland könnte die Krise die Demokratie weiter aushöhlen und rechtsextreme Parteien weiter stärken.
Wie kann ein solches Schicksal verhindert werden?
Zum einen brauchen wir mehr Ehrlichkeit im Bundestagswahlkampf. Eine neue
Bundesregierung muss vor allem die genannten Dilemmata auflösen und einen
politischen Kurs definieren, der die soziale Polarisierung wieder eindämmt,
eine breite gesellschaftliche Akzeptanz für Veränderungen schafft und mutige wie auch schmerzhafte Reformen umsetzt.
Die Erfahrung einiger Demokratien
zeigt, dass in Krisenzeiten so eine technokratische Regierung manchmal die beste
Option sein kann. Ein Beispiel dafür ist die Regierung Italiens
unter Mario Draghi in den Jahren 2021 und 2022, in denen das Land wesentlich mehr
grundlegende Reformen umsetzen konnte als in den 25 Jahren zuvor. Draghi hat es
in relativ kurzer Zeit geschafft, mit Ehrlichkeit und mutigen Reformen das
Vertrauen und Selbstbewusstsein wieder deutlich zu stärken.
Die Alternative
wäre nur eine Bundesregierung aus einer breiten Koalition mehrerer demokratischer
Parteien im Deutschen Bundestag. Doch dafür könnte es zu spät sein – denn die
Parteien haben längst zu viele Brücken abgebrannt.