David Klett über Schulbücher und die Zukunft der Bildungsmedien

Die Digitalisierung in der Bildung schreitet voran. Wie stabil ist das gedruckte Schulbuch noch in Deutschland?

Es ist erstaunlich stabil. Wir sehen nicht die starke Erosion, die wir von anderswoher kennen – die Klett Gruppe betreibt ja Bildungsmedienverlage in mehr als 20 Ländern. Es gibt aber immer mehr digitale Angebote, die ergänzend genutzt werden. Da in Deutschland für Bildungsmedien vergleichsweise wenig Geld ausgegeben wird – pro Schüler sind es im Jahr 50 Euro, in Finnland sind es beispielsweise 250 Euro, in den Niederlanden 300 –, bleibt den Schulen nichts anderes übrig, als die gekauften Schulbücher über viele Jahre zu nutzen beziehungsweise zu verleihen.

Wie ist Ihre persönliche Meinung: Passt das gedruckte Schulbuch noch in die immer heterogener gewordenen Klassen?

Neben dem gedruckten Schulbuch gibt es heute eine ganze Reihe digitaler Lösungen, die entsprechende Hilfen speziell für den differenzierten Unterricht bieten. Aber die Schulen können nicht zaubern, sie müssen mit dem arbeiten, was sie haben. Zu den knappen Budgets kommt eine zum Teil miserable digitale Infrastruktur: 25 Prozent der Schulen ha­ben nicht einmal eine Breitbandanbindung. Aber wir sehen in anderen Ländern, dass man mit digitalen Endgeräten super Sachen machen kann. Der naheliegendste Einsatz für digitale Medien ist das Üben und Vertiefen.

Sind kommerzielle Lehrerplattformen, auf denen im Monat millionenfach Stundenvorbereitungen ausgetauscht werden, inzwischen eine ernsthafte Konkurrenz für Ihr Haus?

Es gibt in Deutschland eine sehr erfolgreiche Plattform, auf der Lehrkräfte selbst entwickelte Unterrichtsmedien ver­kaufen können – auch unsere Unterrichtsmaterialien kann man dort erwerben. Das ist aber kein Problem für uns, Wettbewerb ist gut.

Gibt es einen Trend, Lernmaterialien verstärkt selbst zu machen? Mit wachsender KI-Kompetenz fällt das Lehrern ja immer leichter.

Lehrkräfte machen Unterrichtsmate­rialien schon immer selbst. Und Austauschplattformen gibt es seit mehr als 15 Jahren. Mein Eindruck ist: Es wird eher schwieriger, sich Zeit für das Erstellen eigener Materialien zu nehmen, weil der Stress in den Schulen so groß ist. In Zeiten des Lehrkräftemangels ist es hart, sich abends noch hinzusetzen und an den eigenen Unterrichtsmedien zu feilen. Was KI angeht, stimme ich Ihnen zu: Sie kann an einigen Stellen Lehrkräfte entlasten. Künstliche Intelligenz ermöglicht es vor allem, Medien an die jeweilige Situation im Klassenzimmer anzupassen.

Welche Formen digitaler Unterrichtsmedien bieten Sie inzwischen in Ihren Verlagen an?

Eine erschöpfende Antwort ist nicht so leicht. In Deutschland gibt es eine Entwicklung, die dazu geführt hat, dass nicht nur die klassischen Bildungsmedien, wie zum Beispiel das Schulbuch, in verschiedenen digitalen Varianten angeboten werden. Dazu werden unglaublich viele ergänzende Angebote gestrickt, wir nennen sie Kranzprodukte. Dieses Phänomen gibt es in keinem anderen europäischen Land in diesem Ausmaß. In den Sprachen ist der Vorteil offensichtlich: Vokabeltrainer oder Tools, die die Aussprache verbessern, können extrem hilfreich sein; diagnostische Programme ermitteln, ob die Schüler bestimmte grammatische Formen beherrschen. Die größte Ergänzungsmedienschlacht wird wohl bei den Sprachen geführt.

Wie erklären Sie sich diese deutsche Eigenheit angesichts kleiner Budgets?

Ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten, der Befund ist jedenfalls seit Jahrzehnten auffällig. Insgesamt muss man sagen: Es ist kein Zufall, dass es in Deutschland drei große Bildungsmedienverlage gibt, flankiert von vielen kleineren. Das hängt mit der wahnsin­nigen Komplexität des deutschen Bildungssystems zusammen, mit 16 Bundesländern, je Bundesland bis zu fünf Schularten und bis zu 13 Jahrgangs­stufen und 15 Fächern. Diese zu bedienen schaffen sie nur mit einer extrem gut eingespielten Verlagsorganisation. Mit Kern- und Kranzprodukten immer rechtzeitig am Start zu sein, das ist Pflicht und Kür. Meine Kolleginnen und Kollegen in den Niederlanden, Belgien oder Kroatien reiben sich die Augen, wenn sie sehen, welcher ultrakomplexen Bildungswelt in Deutschland wir gerecht werden müssen.

Haben die Schulen ausreichend Geld für komplexe Anwendungen wie die Mathematik-App studyly oder den Lautlesetutor LaLeTu aus Ihrem Haus? Diese werden in der Entwicklung ja nicht günstig sein?

Ich muss noch ergänzen: Es ist nicht so, dass wir für die Kranzprodukte mehr Geld verlangen können. Sie werden von uns teilweise kostenlos dazugeliefert. Was studyly oder LaLeTu angeht, stellen wir fest: Bei allen positiven Rückmeldungen fällt es den Schulen nicht leicht, dafür Geld zu finden. Die finanziellen Mittel sind begrenzt.

Ist das angelaufene Startchancenprogramm, das zehn Prozent der Schulen über zehn Jahre hinweg finanziell zusätzlich unterstützt, auch für Bildungsmedienverlage eine Chance?

Das Programm hat einen sehr guten Ansatz: Jenen Schulen soll geholfen werden, die Hilfe am dringendsten benötigen. Es muss jetzt erst einmal Schwung aufnehmen, aber ich setze große Hoffnung darauf. Es gibt in diesem Programm die „Säule 2“ für individuelle Förderung, hier soll vor allem datengestützte Diagnostik eingesetzt werden. In diesem Bereich können Schulen von unseren Angeboten profitieren.

Welche Rolle spielt KI heute schon in Ihren Produkten? Kommt bald der digitale Assistent für jeden Schüler?

In dieser Sekunde beschäftigen sich wahrscheinlich bei allen Bildungsanbietern der Welt Tausende Menschen mit der Frage, wie KI die eigenen Produkte verbessern kann. Vor zwei, drei Jahren hätten wir noch gesagt, die kreative Leistung kommt von uns, eine Maschine kann das nicht ersetzen. Plötzlich erweist sich eine Maschine als irre kreativ. Das hat unmittelbaren Einfluss auf die Prozesse in unseren Häusern. Zu den Bildungsmedien selbst: Ich glaube, in den nächsten Jahren werden wir ein graduelles Einbetten von KI-Lösungen in die verschiedenen digitalen Lernum­gebungen sehen. Das individuelle Feedback wird dabei eine besonders große Rolle spielen. Wir wissen, dass im Bildungsprozess nichts so gut wirkt wie ei­ne individuelle Rückmeldung. Dafür fehlt Lehrkräften meistens die Zeit, KI kann hier entlasten. Ich will aber auch sagen: Schule ist eine soziale Veranstaltung, und ich habe Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass ein Zwölfjähriger viel Zeit am Bildschirm in einer Eins-zu-eins-Situation mit einem digitalen Assistenten zubringt. Die Lehrkraft ist entscheidend. Daher ist es wichtig, die richtige Einbettung von KI in den Unter­richtsprozess zu finden. Davon abge­se­hen gibt es natürlich einen Typ Schüler, der wahrscheinlich sehr viel von einem smarten Assistenten profitieren könnte. Ich selbst spreche jeden Tag mit ChatGPT, das ist für mich ein Dialogpartner geworden. Aber Sie müssen schon viel Kompetenzen mitbringen, um die Früchte ernten zu können. Grundsätzlich gibt es aber aus meiner Sicht größere Probleme an Schulen als fehlende digitale Assistenten.

Ihr Verlag ist in vielen Ländern vertreten. Was kann Deutschland schulisch von seinen Nachbarn lernen?

In den Niederlanden oder in Finnland sehen wir einen guten Mix von klassischen und ergänzenden Medien. In den Niederlanden gibt es darüber hinaus in der Mathematik in Grundschulen sehr gute adaptive Übungsplattformen, die sich schnell der jeweiligen Leistungs­fähigkeit des Schülers anpassen. Die Schulen lieben es. Das würden wir gern auch in Deutschland sehen. Es ist nur so: In den Niederlanden haben alle Kinder digitale Endgeräte nur für den Unterrichtszweck, deren Einbindung ist super einfach, ähnlich in Finnland. In vielen deutschen Schulen ist sie wahnsinnig schwer, weil die Voraussetzungen nicht gegeben sind. Aber ich habe in den vergangenen Jahren auch viele gute Entwicklungen an den Schulen in Deutschland gesehen. Ich bleibe zuversichtlich.

David Klett, 47, ist Vorstand der Ernst Klett AG.