
Vor 34 Jahren (man möchte eher 340 schreiben) verbrachten Menschen, die einen Gameboy besaßen – und nicht wie der Autor immer fragen mussten: „Darf ich auch mal?“ –, aller Wahrscheinlichkeit nach einige Zeit mit dem Spiel „Wizards & Warriors X: The Fortress of Fear“. Es war eines von 30 Spielen, die 1990 in Europa für Nintendos „Gameboy“ erschienen.
Man spielte eine Ritterfigur namens Kuros, die sich in die titelgebende Festung der Angst aufmachte, um den bösen Zauberer Malkil zu bezwingen. Dazu musste man das Männlein mit Schild, Schwert und Topfhelm zu enervierender Musik über Simse, Plattformen und Abgründe hinwegbewegen und sich unter Pfeilen, Kanonenkugeln, Fledermäusen und anderen Unhöflichkeiten hinwegducken.
Nur die allerabgebrühtesten Spieler bleiben reglos
Und selbst wenn das Ganze noch zweidimensional war – es ging nach rechts oder links, man konnte springen oder fallen –, war man als Spieler mit jeder Faser seines Körpers dabei. Nur die allerabgebrühtesten Spieler konnten bei all dem Gehüpfe reglos dasitzen. Der Rest versuchte, die Spielfigur durch massiven Körpereinsatz inklusive der ruckartigen Bewegung des Gameboys dazu zu bekommen, den Sprung zu unterstützen. Entscheidend war der Abgrund: als wesentlicher Teil des Spiels. Die Angst vor dem Fall aus großer Höhe spricht vermutlich die ältesten Teile unseres Gehirns an. Sie ist exakt aus diesem Grund bei Entwicklern beliebt. Selbst wenn nur die Figur fällt, kitzelt es die Nerven. Es ist eine der verlässlichsten Mechaniken, den Spieler Teil des Spiels werden zu lassen.
Der Überraschungsspielhit „Lorn’s Lure“, ein Ein-Mann-Projekt, hervorgebracht vom kanadischen Entwickler Rubeki, macht sich diesen Mechanismus kunstvoll zunutze. Hier wird Nervenkitzel nicht über die bildgewaltige Erledigung von Gegnern oder das Sammeln von Ausrüstung und Belohnungen generiert, sondern durch den Lockruf der virtuellen Tiefe. Man spielt einen kaum näher beschriebenen Androiden aus der Ich-Perspektive, der eines Tages einer optischen Anomalie, einem Glitch, folgend seine Kolonie verlässt und entdeckt, dass sie nur ein kleiner Teil einer architektonischen Superstruktur ist. Optisch wirkt das so, als befinde man sich irgendwo unterhalb einer Stadt im Jahre 2900 – was auch heißt: viele, viele Schichten über derselben Stadt des Jahres 2024. Beton, Sediment, megalophobie-induzierende Trägerstrukturen und rostige Bolzen groß wie Linienbusse. Plus: Es geht stets überall sehr weit runter.
Vier Jahre hat der Mann, der unter dem Pseudonym Rubeki arbeitet, gebraucht, um aus der fixen Idee seinen finstren Klettergarten zu programmieren. Im Hauptberuf sei er Softwareingenieur und Produktmanager gewesen, antwortet er auf eine Anfrage per Mail. Als Inspiration für seine mysteriöse Welt, erzählt Rubeki, hätten ihm Videospiele wie „Silent Hill“, „The Legend of Zelda: Ocarina of Time“, „Mirror’s Edge“, „Half-Life“, „Quake“, „Journey“ und „all die Indy-Horrorspiele, die für die Playstation 1 in den vergangenen Jahren erschienen sind“, gedient. Das Fundament aber bestehe vor allem aus seinen „eigenen schwarzen existenziellen Gedanken“.
Mysteriöse Reliefs, die wenig Gutes verheißen
Am Anfang bewegt sich der Spieler noch frei und sucht den Weg hinab geradezu: In einer Welt, die oberflächlich in der Tat an Spiele wie „Quake“ (die Dinge sind aus rechteckig-kantigen Elementen mit Pixeltextur zusammengepuzzelt), aber auch an Tsutomu Niheis Manga/Anime „Blame!“ erinnert.
Die Figur rutscht Schrägen hinab, hievt sich auf Vorsprünge und springt von Absatz zu Absatz. Bald kommt die Fähigkeit hinzu, mittels zweier Kletterwerkzeuge senkrechte Wände zu erklimmen. Aber nur solange die Ausdauer reicht, die sich als orangener Balken stetig erschöpft, wenn die Figur sich an der Wand befindet. In verlassenen Schutzhütten unbekannter Herkunft findet man spärlich gesäte Informationen zu anderen Individuen, vermutlich Forschern – oder ihre Überreste. Später deutet sich an, dass in bestimmten Teilen der Superstruktur Fehden auf Leben und Tod ausgetragen wurden; tiefer im Spiel entdecken wir mysteriöse Reliefs, die wenig Gutes verheißen.
„Lorn’s Lure“ ist eine selten gewordene Videospielerfahrung. Seine Mittel sind vergleichsweise simpel. Dennoch erschafft es eine Atmosphäre, in der Neugier und Nervenkitzel eng beieinanderliegen. Die Musik (Phrakture Music) und ihre düsteren Klangtupfer legen sich organisch über Gesehenes und Gefühltes. Wann hat man ein Spiel zuletzt so schmerzlich bis in die Zehenspitzen gefühlt wie dieses: Jeder Sprung, jedes Rutschen am Abgrund führt zur Kontraktion der Beckenboden- und Zehenmuskeln, als könnten Letztere den Fall verhindern, wenn sie sich nur fest genug in den virtuellen Stein krallen. Das wird nicht besser, wenn später noch die Dunkelheit als Reisebegleiterin auftaucht. Unser Leuchtstabwerfer, dessen radioaktive Projektile wie steinerne Glühwürmchen – „klink-klonk“ – den Weg erhellen sollen, fragmentiert die Umgebung mehr, als dass er sie erkennbar machte.
Und dennoch klettert man weiter: Die Belohnung besteht hier nicht aus bunten Sammel- oder Ausrüstungsgegenständen. Sie besteht darin, den – wenn man will durch eine rote Markierung gekennzeichneten – Ort in der Ferne endlich erreicht zu haben; mehr von diesem unwirklichen Ort zu entdecken. Frustrierend wird es nur, wenn nach all diesem existenziellen Auf und Ab versehentlich der Resetknopf (T) zu lange gedrückt und man wieder an den Anfang des Kapitel zurückkatapultiert wird. Oder wenn das Spiel abstürzt und das ganze mühselig erklommene Kapitel nicht gespeichert wurde. Da überlegt man dann zweimal, ob man das Fallen und Verfehlen, das Glück des Geradesoeben noch einmal erleben will. Doch es lohnt sich. Vor allem die Zielgerade ist an Tempowechsel, Spannung und Immersion kaum zu überbieten. Ein Computerspiel als In-die-Welt-geworfen-Sein, mit einer Figur, die zugleich Sisyphos und Stein ist. Und obwohl es sie stetig nach unten zieht, klettert sie unermüdlich weiter.
Lorn’s Lure ist für die Betriebssysteme Windows, Mac OS und Linux zu haben und kostet etwa 14 Euro.