Ich habe eine Obsession entwickelt, die ich gar nicht wollte, und passenderweise fing sie mit „Nobody wants this“ an. Ich fand die Netflix-Serie nicht berauschend, allerdings konnte ich mich auf den ohnehin dünnen Plot auch kaum konzentrieren, weil ich die ganze Zeit auf die Stirn der Hauptdarstellerin Kristen Bell starren musste. Nicht, weil die besonders hoch oder niedrig wäre, sie hat eher so eine Durchschnittsfront, allerdings trägt sie keinen Pony oder seitliche Gardinen, die Stirn liegt also komplett frei, und über zehn Folgen passiert dort einfach mal: nichts.
Kein Stirnrunzeln, keine Zornesfalte, kein sorgenvolles Zusammenkräuseln, obwohl sich der neue Typ in ihrem Leben als waschechter Rabbi entpuppt und sie nicht nur nicht jüdisch, sondern auch noch Sexpodcasterin ist, die keinen Plan von koscherem Fleisch hat, dafür demonstrativ Pelz trägt. Angesichts dieses hanebüchenen Plots zieht sich die Stirn jedes halbwegs kritischen Zuschauers wie ein Faltrollo zusammen. Bei Bell hingegen bleibt alles spiegelglatt, wie an den Seiten fest getackert.
Die Schauspielerin ist übrigens 44, kein Alter versteht sich, aber ein paar Lebenslinien müssten da eigentlich sichtbar sind, im gnadenlosen Volksmund auch Falten genannt. Die hollywoodüblichen Collagenbooster und Botoxladungen hat der aufgeklärte Rezipient bei seinen Sehgewohnheiten natürlich eingepreist. Aber so gar keine Regung auf der Stirn? Nada? Tabula rasa? Da ist dann doch seltsam wenig los im Gesicht.
Der Algorithmus wollte, dass ich mir kurz darauf die Miniserie „The Perfect Couple“ anschaute. Mit Nicole Kidman, auch bekannt als „Frozen Forehead“. Würde in ihrem Pass nicht 57 stehen, könnte ihre sauber durchhydrierte Epidermis sicher als die einer 27-Jährigen durchgehen. Vor allem ihre sehr prominente Stirn scheint sich mit aller Spannkraft dem Altern zu widersetzen. Jedenfalls hält „The Perfect Couple“ durchaus ein paar gute Pointen bereit, und ich versuchte wirklich, mich auf die Aufklärung des Mordes zu konzentrieren, stattdessen dachte ich ständig: Wie machen die das, dass sich die Augenbrauen noch bewegen, der Rest aber nicht? Fühlt sich so eine feste Frontscheibe mit der Zeit wohl wie ein Brett vorm Kopf an? Und wann haben wir eigentlich angefangen, bei Frauen nicht mehr „gut gehalten“, sondern völlig selbstverständlich „gut gemacht“ zu sagen?
Seitdem bin ich stirnfixiert. Bei mir selbst, aber vor allem bei anderen. Früher habe ich Leuten zuerst in die Augen oder auf den Mund geschaut, jetzt geht der Blick sofort auf die Zwölf. Mir fällt zum ersten Mal auf, wie unterschiedlich groß die Fläche dort ausfallen kann. Wie tief und lang oder zart und unregelmäßig die Rillen verlaufen. Mal sind sie schnurgerade wie auf einem linierten Blatt, mal ist da noch ein Bogen über einer Braue oder zwei senkrechte Zwillingstürme über der Nasenwurzel. Wenn Kylian Mbappé einen Elfmeter verschießt, bildet sich eine interessante, wulstige Solo-Falte mittig auf der Stirn. Wenn Zendaya alias Chani in „Dune II“ wütend wird, braut sich da (noch) eine regelrechte Gewitterwolke zwischen den Augenbrauen zusammen. Oder Nick Cave! Mit seinem markanten Hermann-Monster-Schädel ist der Sänger wirklich der Frontmann schlechthin. Jede Stirn erscheint mir plötzlich wie ein Banner am Kopf, das wahnsinnig viel transportieren kann. Aber gerade bei Frauen eines gewissen Alters spielt sich dort immer weniger ab. Totale Sendepause.
Als Botox in den Nullerjahren noch relativ neu war und die ersten Hollywoodstars ein bisschen zu großzügig dosieren ließen, hieß es, mit dem Nervengift gäben sich Schauspieler ja quasi selbst die Kugel. Schließlich lebten sie doch vor allem von ihrer Mimik. Carey Mulligan erzählte in einem Interview, ihr sei mit 23 geraten worden, sich spritzen zu lassen, aber sie habe dankend abgelehnt. „Mein ganzer Job dreht sich darum, mein Gesicht zu bewegen.“ Von Julia Roberts stammt das Zitat: „Dein Gesicht erzählt eine Geschichte und es sollte nicht die von deinem Besuch beim Schönheitschirurgen sein.“ Botox und (ernsthafte) Schauspielerei, das schien – zur Freude für den runzeligen Rest der Welt – nun wirklich nicht zusammenzupassen.
Fünfzehn Jahre und eine steigende Akzeptanz von Beauty-Behandlungen später ist Nicole Kidman so gut im Geschäft wie lange nicht. In Venedig wurde sie für den demnächst anlaufenden Film „Babygirl“ als beste Darstellerin ausgezeichnet, sie ist das Gesicht von Balenciaga. Die ebenfalls sehr unlinierte Cate Blanchett sahnt eine Oscarnominierung nach der anderen ab. Im Februar kehrt Renée Zellweger als Bridget Jones zurück, über deren pralles Gesicht vor einigen Jahren die halbe Welt lästerte, wobei sie im Trailer zum Film vergleichsweise aufgetaut aussieht. Die Stirn scheint bei Schauspielerinnen im wahrsten Sinne des Wortes keine große Rolle mehr zu spielen. Die teilweise Stilllegung wird von vielen Regisseuren und weiten Teilen des Publikums einfach so hingenommen – zumindest wenn sie ins Milieu passt. „Frozen Rich Face“ nannten sie Kidmans Gesichtsausdruck neulich im Podcast „Culture Study“. Die Australierin spiele in letzter Zeit eben nur noch den Typ „reiche, gestriegelte Frau“, und dafür sei die frostige Visage eigentlich ziemlich perfekt, weil insbesondere wohlhabende Amerikanerinnen heutzutage nun mal so aussähen beziehungsweise aussehen wollten. Statussymbol glatt gebügelte Stirn. Mit Rollen, die in der weniger gepflegten Arbeiterklasse spielen, wird es dann zwar schwierig, aber dafür gibt es ja noch Schauspielerinnen wie Jamie Lee Curtis, deren Gesicht im Vergleich so zerknittert wie die Haut einer Schildkröte daherkommt. Immerhin gewann die 66-Jährige 2023 damit einen Oscar.
Dabei ist die Stirn nicht nur die Gesichtspartie mit dem größtmöglichen Sendevermögen. Hinter dieser Außenverkleidung rattert immerhin unser Gehirn. Deshalb gilt eine hohe Stirn noch heute als Merkmal für ausgeprägten Intellekt und Denkfreude, während eine schmale Stirn umgekehrt, nun ja, etwas limitiert und engstirnig wirkt. Entsprechend war von der „Denkerstirn“ die Rede, wenn dieselbe angestrengt in Falten gelegt wurde, weil gerade extra hart gegrübelt wurde. Die gekräuselte Stirn konnte bei Männern sogar sexy sein. James Dean oder Luke Perry alias Dylan McKay aus „Beverly Hills 90210“ hatten keinen Waschbrettbauch, aber sie konnten ihre Stirn in eine so tiefgründig zerklüftete Wand verwandeln, dass die Frauen sofort hingerissen waren. Humphrey Bogart, Jack Nicholson, Brad Pitt – alles große Stirnrunzler.
Von der Denkerinnen-Stirn war freilich noch nie die Rede. Selbst Frauen wie Angela Merkel – die anderen im übertragenen Sinne oft die Stirn boten, also mit eigenen Meinungen auf Kollisionskurs gingen – verstecken dieselbe häufig unter seitlichen Ponys oder einem Fransenvorhang. Dass Frauen im besten, fortgeschrittenen oder was immer Alter sich jetzt trauen, der Öffentlichkeit wortwörtlich die blanke Stirn zu bieten, die dann aber so tot und wächsern wie bei einer Madame-Tussauds-Puppe daherkommt, fühlt sich irgendwie nicht wie eine Errungenschaft an. Gepflegter Stillstand statt Denkerstirn.
Wobei es wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch Männer sich die Stirnfalten glätten lassen. In „Triangle of Sadness“ wird Harris Dickinson – der jetzt neben Nicole Kidman in „Babygirl“ spielt – als Männermodel Carl bei einem Casting gesagt, er solle doch bitte dieses hässlich traurige Dreieck da auf der Stirn entspannen. Hinter seinem Rücken wird getuschelt, dass man diese Sorgenfalte doch ganz einfach wegspritzen lassen könnte. Tatsächlich argumentieren Ärzte wie der amerikanische Schönheitschirurg und Botox-Pionier Eric Finzi, dass weniger Falten nicht nur mehr Schönheit, sondern auch weniger Tristesse bedeuten. Wer die Stirn nicht mehr in Falten legen könne, habe quasi spürbar weniger Sorgen und werde seltener depressiv. Extrabonus: Wer anderen nicht mehr durch Stirnrunzeln signalisiert, welch groben Unfug sie da von sich geben, macht sich weniger Feinde und ist folglich beliebter. Das aalglatte Versprechen: Wenn wir nur faltenfrei genug daherkommen, läuft alles wie geschmiert.
Da wirkt die kürzlich erschienene Serie „Black Dove“ fast wie ein angenehmer Schlag ins gefrorene Gesicht. Denn neben all den großartigen Elementen dieser Netflix-Produktion ist eines der besten Details, dass Keira Knightley, 39, tatsächlich sichtbare Linien im Gesicht hat, sogar auf der Stirn. Im ersten Moment schockt so viel explizite Darstellung von Alterserscheinungen fast mehr als alle Ballerei und spritzendes Blut. Danach konnte ich mich an all den ungehinderten Bewegungen in Knightleys Gesicht gar nicht mehr sattsehen. Was für eine Wohltat. Was für ein gesellschaftliches Armutszeugnis.
Knightley ist bekanntlich Britin, genauso wie Kate Winslet, die zu den wenigen Frauen ihrer Generation gehört, die sich entschieden gegen Retusche und Schönheitsbehandlungen aussprechen. Das „alte“ Europa bekommt hier noch mal eine ganz neue Bedeutung. Entweder ticken britische, deutsche, skandinavische Frauen hinter ihrer prominenten Stirn tatsächlich anders. Oder sie sind nur noch nicht so weit beziehungsweise glatt wie Amerikanerinnen. Wahrscheinlich wird man irgendwann nicht mehr über den Gemütszustand, sondern über Wohlstand und Geisteshaltung einer Person sagen: Es steht ihr ins Gesicht geschrieben.