Das ulkige Balzverhalten profilneurotischer Großstadt-Bohemians

Jugend ist kein Zustand, Jugend ist ein Prozess. Ein unberechenbarer, langwieriger, (auto-)aggressiver Entwicklungszyklus, der sich zwar innerhalb enger Reifungsgrenzen vollzieht. Sie sind allerdings durchlässiger, als man denkt. Während Jugend juristisch in der Sekunde vorm 21. Geburtstag endet, packt die Shell-Studie vier Jahre drauf und verdoppelt das Zeitfenster der UNO-Definition, erreicht aber nicht annähernd den Spielraum der neuen Neo-Serie „Jugend“, die ihr Unbehagen am Titel gar darunterschreibt: „Es ist kompliziert“.


Ist es! Aber gleich so? Die Irgendwas-mit-Kunst-Promoterin Cathrin teilt ihre Berliner WG darin mit dem Irgendwas-mit-Theater-Kreativen Tim und der Irgendwas-mit-Irgendwas-Macherin Sophie gegenüber vom Irgendwas-mit-garnichts-Nachbarn Frank. Alles angehende Mittdreißiger im Körper ausgehender Endvierziger mit dem Geist vergreister Teenager, befinden sich die vier Adoleszenzverweigerer auf der Suche nach etwas, das mit ewiger Jugend gut beschrieben wäre. Wobei es niemand im Serienpersonal zugeben würde. Im Gegenteil.

Cathrin und Tim und Sophie und Frank, die sich gegenseitig abstoßen, mehr aber noch anziehen, Cathimphirank also stecken in jener diffusen Alterskohorte, die Millennials den Ruf spießiger Hedonisten eingebracht hat. Dem herrschenden Vorurteil nach wollen sie nämlich Freiheit und Familie, Abenteuer und Nestwärme, Karriere und Sabbaticals, Kapitalismus und Anarchie, am besten alles mit aufwandslosem Arbeitseinsatz bis zur Erschöpfung.

Wer jetzt bereits von der achtteiligen Sitcom und ihrem Personal genug hat, weil von „Nix Festes“ bis „Sex, Zimmer, Küche, Bad“ gefühlt vier von drei ARZDF-Digitalformate in Wohn- oder Kneipengemeinschaften unter 35 entstehen und man sich echt nicht mehr fürs ulkige Balzverhalten profilneurotischer Großstadt-Bohemians fremdschämen mag – bitte dranbleiben! Es wird nämlich noch schlimmer und damit das Beste, was Sitcoms seit „Curb your Enthusiasm“, wenn nicht gar „Seinfeld“ zuwege gebracht haben.

Schon als Tim und Frank sich die ersten 1:45 von jeweils 22 Minuten im Lieblingscafé am Fuße des heimischen Gründerzeitbaus bei Baklava und Schwarztee erst über Habecks Einkaufswagen (Honigmelone), dann Cathrins Job (Netzwerken), zuletzt Zimmer für Medizinstudenten (brächten 500 Euro, ersparen die Krankenkasse) aneinander vorbeireden, zeigt sich die ganze Magie der Low-Budget-Produktion von Showrunner Stefan Stuckmann.

Was er sich, Hannah Dörr und Simon Ostermann – dem Regie-Trio der Serie – in die Drehbücher geschrieben hat, katapultiert den alltäglichen Aberwitz gewöhnlicher Freaks auf ein neues Niveau. „Die besten Typen sind alle verheiratet, der Rest ist geschieden oder…“, sagt die paarungswillige, aber beziehungsgestörte Cathrin und zeigt dabei auf Tim. „Warum bin ich bindungsunfähig und du die traurige Frau mit Pech in der Liebe?“, fragt er entgeistert zurück. „Weil Männer das Problem sind“, erklärt ihm Cathrin. „Hast du in den letzten fünf Jahren einmal ins Internet geguckt?!“

Wie die Titelfiguren ihrer Seriengrotesken „Eichwald, MdB“ oder „Oh, Hell“ vertonen Stuck und Ostermann und Hannah Dörr als dritte im Bunde ihre Gesellschaftskritik im Pingpongstakkato wechselseitiger Schlagfertigkeit und lassen sie von einer Crew intonieren, die beides zur Perfektion bringt. Tempo und Distanz, Timing und Empathie, also alles, was Comedy zur komödiantischen Kunstform macht – dank Thomas Schubert, Sarah Gailer, Leon Ullrich und Eli Riccardi wird sie selbst dann fast wahrhaftig, wenn wie so oft das Drehbuchpapier raschelt.

Denn natürlich kommunizieren auch hippe Berliner Eigen-PR-Profis nicht dauernd im Pointen-Modus. Und natürlich sind ihre Filmversionen klischeehafte Karikaturen in Situationen bar jeder Realität. Wenn Tim seine Arroganz als weißes Lehrerkind mit der Adoption eines Paketboten kompensiert, wenn Cathrins Feminismus wackelt, sobald sie das Chanel-Kostüm der Frau eines verwitweten Tinder-Dates anzieht, wenn Frank mit der Amerikanerin Sophie – die umschichtig akzentfreies Deutsch oder Englisch spricht – ein Straßenkätzchen mit Buggy, Babyphon und Stuhlganggesprächen zum Kindersatz vermenschlicht, ist das ebenso drüber wie praktisch jeder Dialog.

Ostermanns moralisch, aber auch physisch angenehm unvollkommenes Ensemble aber sorgt dafür, dass Stuckmanns sehr sehr sehr vielen Worte selten aufgesagt klingen. Dabei agiert es, als hätten Christian Ulmen und Mizzy Meyer die Jugendworte 2019-24 als Remake von „Friends“ in der „Lindenstraße“ gedreht, was schon wegen der taubenblau-staubigen Einrichtung wirkt wie Bastian „Pastewka“ ohne Dad-Jokes plus Dieter Nuhr ohne Frauenverachtung. Und das will schon deshalb was heißen, weil sich die Serie besonders verbissen an der linksalternativ-emanzipierten Wokeness Berliner Grünenhochburgen abarbeitet – männliche Hauptfiguren noch mehr als weibliche, aber ebenso erfolglos.


Sekunden nach der Erkenntnis, „ich schäme mich so für mein Geschlecht“, geht Tim daher ins feministische Fahrradkollektiv, um eine besonders übellaunige Mechanikerin abzuschleppen – bevor sie sich beim Netflix-Abend an seine Schulter lehnt. Im Grunde wirkt diese Jugend also gar nicht kompliziert, sondern einfach gestrickt. Cathimphirank rippeln das akkurate Zopfmuster jedoch mit so authentischer Spielfreude wieder auf, dass man nie weiß: ist das nun Satire, Pamphlet, Blödsinn, Didaktik, Populismus? Alles in einem! Das legen Bargespräche bei Baklava und Tee wie jenes nach Tims Besuch einer CDU-Veranstaltung nahe.

Frank: Und die Weiber waren alle heiß?

Tim: Ich hab keine Ahnung, wie das genetisch funktioniert…

Frank: Kann man da einfach so hingehen und braucht man ‘ne bestimmte Ausrüstung: Bootsschuhe, Manschettenknöpfe … Fackeln?

Tim: Du musst noch nicht mal gegen Flüchtlinge sein…

Das ist so flach wie deep, ganz schön albern, dennoch lustig, mitunter arg gewollt, aber meist mitten aus dem Leben und damit ein soziokulturell relevanter, durchweg unterhaltsamer, zudem von Peter Licht vertonter Spaß für Jugendliche zwischen 12 und 120 Jahren.

Alle acht Folgen von „Jugend – Es ist kompliziert“ stehen ab sofort in der ZDF-Mediathek zum Abruf bereit. Die lineare Ausstrahlung folgt am 10. September ab 21:45 Uhr bei ZDFneo