
Biologische Theorien und Annahmen diffundieren leicht in andere Gebrauchsbereiche, besonders wenn es sich um Aussagen zum sexualisierten Verhältnis der Geschlechter handelt. In großen Teilen des Tierreichs gebe es Geschlechtsgenuss ausschließlich für Helden, beispielsweise beim See-Elefanten, schreibt Peter Hacks in seiner Studie „Zur Romantik“. Hacks geht es in dem Kapitel um das Verhältnis der Romantiker zu Frauen, und seine Referenz im Tierreich ist der Harem des Alpha-Bullen. Das ist natürlich Unfug, und es entschuldigt Hacks auch kaum, dass bis in die Achtzigerjahre der Harem der See-Elefanten und sein überragender Alpha-Bulle auch in soziobiologisch inspirierten Lehrbüchern zur Verhaltensökologie ihren Platz fanden.
Erstaunlich ist das natürlich nicht. Die Geschlechter der größten und schwersten Robben überhaupt sind auffallend unterschiedlich. Die Männchen der Südlichen See-Elefanten wiegen um die 3000 Kilo und werden vier bis fünf Meter lang; die Weibchen werden nur bis zu 900 Kilo schwer und messen zwei bis drei Meter. Dazu haben die männlichen See-Elefanten eine rüsselartig verlängerte Nase, die sie aufpumpen können, wenn sie sich erregen. Zur aufgepumpten Nase brüllen die Bullen auch noch laut und schnauben deftig.
Wenn so ein Bulle aufgerichtet an den Küsten der Antarktis oder Kaliforniens zwischen eher träge daliegenden weiblichen Tieren sehr laut und plump mächtig auf und ab schreitet, kann man schon den Eindruck gewinnen, hier herrsche einer über viele. Wenn der menschliche Beobachter ein Mann ist und neben der gewaltigen Größe und dem eindrucksvollen Rüssel auch noch die narbig zerfurchte Nackenhaut wahrnimmt, kann in ihm schon ein „unvergesslicher Eindruck von Kraft und Urtümlichkeit“ entstehen, wie es in Grzimeks Enzyklopädie der Säugetiere heißt. Dieser Eindruck kann offensichtlich so beherrschend sein, dass man ein paar andere Tiere neben dem Alpha übersieht.
Ein klassischer Harem ist das nicht
So kontrollieren die dominanten Männchen der Nördlichen See-Elefanten an den Küsten Kaliforniens und Mexikos prinzipiell die Bewegungen der Weibchen in ihrem Territorium nicht – und das ist klug, denn verhindern könnten sie den Zugang subalterner Männchen ohnehin nur schwer. Dazu sind die anderen einfach zu viele. Von einem klassischen Harem kann man jedenfalls nicht sprechen, und das gilt auch für die größeren Männchen der Südlichen See-Elefanten in der Antarktis. Die Nördlichen und Südlichen See-Elefanten gingen wahrscheinlich aus einer Art hervor, die im Holozän durch die wärmer werdende Äquatorregion getrennt wurde. Bei allen Verschiedenheiten, die sie entwickelt haben, lassen sich aber ähnliche Grundmuster erkennen. Die längste Zeit des Jahres leben See-Elefanten als Einzelgänger, die im Meer nach Fischen und Tintenfischen tauchen.
Im August (Süden) oder im Dezember (Norden) verlassen zuerst die Männchen das Wasser und versuchen an angestammten Plätzen ein Territorium und eine Rangordnung zu etablieren. Das geschieht im Süden überwiegend vokal. Sie stehen sich gegenüber und brüllen sich sehr laut an, bis einer nachgibt. Physische Kämpfe, zu denen es nur selten kommt, können blutig werden. Im Norden kämpfen sie körperlicher, indem sie ihre Oberkörper gegeneinanderdrücken. Die Kämpfe dauern nur um die 30 Sekunden, und jedes Paar kämpft nur einmal. Bei längeren Kämpfen müssen die beiden immer wieder pausieren, indem sie sich aneinanderlegen.
Die Weibchen haben dagegen andere Probleme. In ihrer Landzeit werden sie fasten, und wenn sie schwanger sind, müssen sie in etwa einem Monat gebären und ihre Jungen schnell in ein eigenständiges Leben überführen, um sich wieder neu zu paaren. Das bedingt ihre scheinbare Trägheit an Land im Sand. Und da betten sie sich dementsprechend gut und energiesparend. Denn mit der Geburt ihres einzigen Kindes beginnt der immense Abbau körpereigenen Fetts. Die Jungen trinken so viel, dass sie an manchen Tagen bis zu fünf Kilo Gewicht zulegen. Im Süden nach 23 und im Norden nach 27 Tagen brechen die Mütter ihre Fürsorge abrupt ab, entwöhnen die Jungen und werden wieder empfänglich. In den nur ein bis zwei fruchtbaren Tagen achten sie nicht so sehr darauf, ob es nun der stärkste, erste oder vorletzte Bulle in der Hierarchie ist, den sie zulassen. Irgendwie wird man bei der Paarung den Eindruck nicht los, dass sie es bloß hinter sich bringen wollen, um endlich im Meer wieder Fische fangen zu können.