
Dritte Etage, Raum 303. In einem der Seminarräume der Akademie für Mode & Design (AMD) in Wiesbaden, der eher an eine professionelle Werkstatt erinnert, arbeiten an einem Mittwochvormittag acht Studenten konzentriert an ihren Herbst- und Winterkollektionen für das Jahr 2026. Köpfe beugen sich über Skizzen, Stoffproben und Farbkarten. Es raschelt, es knistert, im Hintergrund wird leise diskutiert. „Wir sind die Paradiesvögel auf dem ganzen Campus“, sagt Professorin Ilona Kötter und lächelt. Sie leitet das Seminar „Entwicklungskonzeption“ und ist Studiendekanin der Hochschule.
Die AMD ist Teil des Campus Fresenius, einem der größten privaten Hochschulbetreiber Deutschlands, der vor allem für Studiengänge in Wirtschaft, Technik und Gesundheit bekannt ist. Doch auch kreative Studiengänge wie Modedesign haben bei Fresenius ihren Platz. In Wiesbaden befindet sich der jüngste von insgesamt fünf AMD-Standorten. Außer Modedesign werden hier die Bachelorstudiengänge Interior Design, Mode- und Designmanagement sowie der Masterstudiengang Fashion Management angeboten.
Im Zentrum stehen gestalterisches Denken, individueller Ausdruck und eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Aspekten von Design. Das zeigt sich auch in Ilona Kötters Seminar. Hier entwerfen die Studenten Kollektionen, die sich an bestehenden Marken orientieren, ohne sie zu kopieren. Ziel ist es, die gestalterische „DNA“ einer Marke zu erkennen, zu analysieren und weiterzuentwickeln.
Einer der Studenten ist Tim Wild. Der 23 Jahre alte angehende Modedesigner arrangiert auf einem Arbeitstisch Schwarz-Weiß-Fotografien seiner Großeltern. Abgebildet sind Männer und Frauen in festlichen Trachten, bestickt mit Spitze und floralen Mustern. Daneben liegen Skizzenblätter, Stoffproben, grober Raw Denim, filigrane Spitzenmuster und ein paar lose Knöpfe. „Meine Kollektion heißt Europâ“, sagt er im Seminar. Sie ist eine freie Weiterentwicklung der Linie América des US-amerikanischen Designers Willy Chavarria, der in seinen Entwürfen oft die kulturelle Geschichte der amerikanischen Arbeiterklasse thematisiert.
Vorkenntnisse sind keine Voraussetzung
Diesen Ansatz hat Wild übernommen und auf seine eigene Familiengeschichte übertragen. Seine Vorfahren wanderten im 18. Jahrhundert ins Banat aus, eine Region, die damals zur Habsburgermonarchie gehörte und heute Teile Rumäniens, Serbiens und Ungarns umfasst. Sie ließen sich in dem deutschsprachigen Dorf Blumental nieder, das landwirtschaftlich geprägt war. Diese Herkunft spiegelt sich in Wilds Entwürfen wider. So interpretiert er das florale Muster aus der Tracht seiner Großmutter als Fanschal und spielt damit auf die sportliche Ästhetik Chavarrias an. Auch Spitzenapplikationen ziehen sich durch seine Kollektion. „Ich wollte herausfinden, wie sich meine persönliche Herkunft in eine moderne Kollektion übersetzen lässt.“
Die AMD wurde 1988 von Olaf Wulf in Hamburg gegründet und ist seit 2013 vollständig in die Hochschule Fresenius integriert. Der praxisorientierte Bachelorstudiengang Modedesign basiert auf vier inhaltlichen Säulen, wie Professorin Kötter erklärt: „Handwerk, Darstellung, Entwurf und Wirtschaft sind die Grundbausteine, die sich durch das gesamte Studium ziehen.“
Das Handwerk – von Schnittgestaltung über Materialkunde bis zur Fertigung – bilde das Fundament. Vorkenntnisse seien dabei keine Voraussetzung, was die AMD von vielen staatlichen Hochschulen unterscheide. „Man muss nicht nähen können, um bei uns anzufangen“, sagt Kötter. Wer Unterstützung benötige, könne Aufbauseminare besuchen. Ziel sei es, dass alle Studenten ihre Abschlusskollektion selbst herstellen könnten. Die zweite Säule bilde die Darstellung sowohl in analogen Skizzen als auch in digitalen Visualisierungen.
Der Entwurfsprozess, als drittes Element, umfasse den Weg von der ersten Idee bis zum fertigen Design. Dabei geht es nicht nur um Kreativität, sondern auch um Reflexion: „Ein originärer Entwurf ist mehr als nur eine Idee“, sagt Kötter. Gestalterische Arbeit bedeute auch, gesellschaftliche Strömungen zu erkennen, aufzugreifen und eigenständig weiterzuentwickeln. Die vierte Säule schließlich sei die ökonomische Perspektive. Außer gestalterischen Kompetenzen erwerben die Studenten Wissen über Produktmanagement, Markenentwicklung und Selbständigkeit. „Es geht darum, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie man mit Mode Geld verdienen kann“, so Kötter. Auch in diesem Punkt unterscheide sich die AMD von klassisch künstlerisch geprägten Hochschulen.
Ein verpflichtendes Praktikumssemester bringe die Studenten schließlich direkt in die Realität der Branche. Die Einsatzorte sind vielfältig: von großen Marken wie Adidas oder S.Oliver über Kostümdesigner und Schneidereien bis hin zu kleinen Ateliers und Zwei-Personen-Betrieben. „Es ist nicht alles Glitzer und Glamour, wie man anfangs vielleicht denkt“, sagt Professorin Kötter.
„Gerade jetzt hat Mode eine wunderbare Aufgabe“
Die AMD ist nicht die einzige Möglichkeit, im Rhein-Main-Gebiet Mode zu studieren. Eine andere Ausrichtung bietet die Hochschule für Gestaltung in Offenbach, bei der ein künstlerisch-experimenteller Zugang im Vordergrund steht. Modedesign ist dort in das interdisziplinäre Kunststudium eingebettet, das die Grenzen zwischen freier Kunst und angewandtem Design bewusst offenhält.
Im Zentrum stehen gestalterische Prozesse, gesellschaftliche Fragen und die Entwicklung individueller Positionen ohne unmittelbare Marktorientierung. Zwei private Hochschulen in Frankfurt setzen hingegen auf ökonomische Inhalte: die Hochschule Macromedia mit dem Studiengang Fashion Management sowie der EC Europa Campus mit dem Schwerpunkt Mode-, Trend- und Markenmanagement.
Trotz des wirtschaftlichen Drucks und der Kurzlebigkeit von Trends bleibt Mode für viele etwas Sinnstiftendes. „Wir leben in einer Zeit multipler Krisen“, sagt AMD-Professorin Ilona Kötter. „Gerade jetzt hat Mode eine wunderbare Aufgabe. Es geht darum, schöne Momente zu schaffen. Die Welt darf wieder mehr glitzern.“ Das spüren auch die Studenten. Im Alltag der Werkstatt entstehen echte Verbindungen. „Vor allem die langen Stunden an der Nähmaschine schweißen zusammen“, sagt Tim Wild. „Wir helfen uns gegenseitig.“
Der Jungdesigner erzählt von seinem Weg in die Modewelt: „Es gab zwei Dinge, die mich immer interessiert haben: Autos und Mode.“ Nach dem Abitur begann er zunächst eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker, brach sie aber ab. „Mich hat die Bewerbungsmappe fürs Modestudium immer abgeschreckt“, erinnert er sich. „Aber am Ende war alles machbar.“ Seine Entscheidung, sich neu zu orientieren, hat er nach eigenen Worten nie bereut.
Heute sagt er: „Früher war Mode für mich vor allem ein Anziehmittel – und ein Statussymbol. Heute ist sie Ausdruck meiner selbst. Sie zeigt, wie ich mich fühle. Da ist kein Platz mehr für andere Leute.“