Harper Lee warf nichts weg. Manchmal ist das ja ein Glück. Vier der acht Storys in diesem Buch fand man, so heißt es in dessen glänzendem Nachwort, „zwischen Stapeln mit ihrer Korrespondenz und so ungefähr jeder Gehaltsabrechnung, Telefonrechnung und jedem eingelösten Scheck, den sie je bekommen hat“. Da lagen sie über Jahrzehnte in ihrer New Yorker Wohnung: 433 East 82nd Street, die Adresse einer Pulitzerpreisträgerin, die Anschrift der Schriftstellerin, die den USA im Jahr 1960 ein Lieblingsbuch geschenkt hatte.
Noch heute ist Lees Wer die Nachtigall stört der wohl populärste Südstaatenroman, Alabama in den Dreißigern: Die Geschichte des unbeugsamen Anwalts Atticus Finch, der einen Schwarzen gegen eine Anklage wegen Vergewaltigung verteidigt, war eine Reflexion des moralischen Status ihres Landes, und wurde etwa 40 Millionen Mal verkauft.
Es blieb bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 2016 Lees einziger veröffentlichter Roman. Zu Lebzeiten gehörte sie, wie der wütend vor der Welt verbunkerte J. D. Salinger, zu den Verstummten der amerikanischen Literatur, die sich Journalisten vom Leib hielten (Salinger tat dies bisweilen mit einer Schrotflinte). Dass, bevor sie starb, noch der Roman Gehe hin, stelle einen Wächter erschien, eine rohere, noch nicht so gerundete Version ihres Jahrhundertbuchs, war ein Literatur-Großereignis jüngerer Zeit, obwohl die Umstände der Veröffentlichung vielen Kritikern dubios vorkamen: Unklar ist bis heute, ob die damals bereits demente, zuvor immer um ihr Vermächtnis besorgte Schriftstellerin überhaupt einer Publikation zugestimmt hatte.
Es ist weiterhin eins der Rätsel der amerikanischen Literatur, wie viele unbekannte Texte die schweigsame Harper Lee noch geschrieben hat, wie viele noch in einem Bankschließfach liegen könnten oder in den Schubladen des Schreibtischs, an dem sie, meist mit Erdnussbuttersandwiches, gesessen hat. So gesehen ist der Band, er heißt Das Land der süßen Ewigkeit, eine Freude für Lee-Exegeten. Alle dieser frühen Kurzgeschichten stammen aus der Zeit vor der Nachtigall, und in vielen findet man Annäherungen an ihren großen Roman. In der ersten, „Der Wassertank“, erkennt man bereits Lees Stimmungsmalerei des amerikanischen Südens – „die süße Ewigkeit“ und die „vom Himmel gerösteten Felder“ eines kleinen Orts, wo die Erzählerin, ein junges Mädchen namens Abbie, fürchtet, allein durch die Berührung eines nackten Jungen schwanger geworden zu sein, und in Gedanken ihre Scham wälzt und ihre Flucht aus diesem trüben Nest plant: die literarisierte Version ihres Heimatorts Monroeville, Alabama. Hier heißt er noch Maiben, in einer anderen Geschichte dann schon Maycomb, wie in der Nachtigall.
Es besitzt seinen Reiz, diese frühen Storys als Vorstudien ihres späteren Romans zu lesen und bereits etwas über die frömmelnde Verklemmtheit, die amerikanische Spießermoral, die strengen Backenbartmänner und die cliquenhaften Sozialdynamiken zu erfahren. Und über einigen der Geschichten liegt bisweilen auch schon dieser verhangene, schwüle Südstaatenzauber, für den Lee später so bewundert wurde, das Spiel zwischen der Weite der Landschaft und der Enge der Familienkonventionen inmitten von Vätern, Müttern, Tanten und Priestern, die den Mädchen alle irgendwie ständig zusehen. Lees Gespür für schnoddrige Andeutungen erkennt man bereits im Auftakt der überaus witzigen Story „Ein Zimmer voller Futter“: „Meine Freundin Sarah Mitchell hat es im Moment schwer mit sich selbst, was mich auch nicht wundert, nach dem, was sie getan hat.“
Allerdings findet man daneben einiges an ungelenkem Fleiß, an erzählerischer Bravheit und Lauheit in diesen Geschichten. Jede der Storys wurde damals von verschiedenen Zeitschriften abgelehnt. Man kann es nachvollziehen. Harper Lee dokumentierte offenbar jede Absage, sogar das hob sie auf. Der Band, auch wenn er nun in der Literaturhistorie eine Lücke füllen mag, dürfte außerhalb dieses Interesses leider kaum von einem sein. Es ist ein Sammlerstück für Freunde des Vervollständigens. Ähnliches gilt für die meisten von Lees Essays und Kurzschriften, die den Geschichten nachgestellt sind: ein Porträt über Gregory Peck, ein Kochrezept, eine Würdigung ihres Sandkastenfreundes Truman Capote, der, so ging das Gerücht, das er angeblich gern auch selbst verbreitete, an der Vollendung von Lees Erfolgsroman mehr als beteiligt gewesen sein soll.
In einer Weihnachtsanekdote erzählt Lee noch, wie ihr zwei Freunde einen Umschlag schenken, in dem so viel Geld ist, dass sie ein Jahr lang in Ruhe schreiben kann. Und Lee ahnt schon, hier liegt die Ironie, dass sich die Investition womöglich nicht dauerhaft lohnen wird. Am Ende blickt sie ins verschneite New York: „Die Brownstone-Häuser wurden immer weißer. In den Lichtern der fernen Wolkenkratzer schimmerten die gelben Zeichen für in Einsamkeit endende Straßen.“ Es ist die schönste, traurigste Geschichte dieses Buchs.
Harper Lee: Das Land der süßen Ewigkeit. Storys und Essays; a. d. Engl. v. Nicole Seifert; Penguin, München 2025; 208 S., 25,– €
