Das kollektive Schweigen der EU

Auf die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu hat die Eu­ropäische Union schnell reagiert. „Sehr beunruhigend“ sei das, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon ein paar Stunden später. Als Mitglied des Europarats und als EU-Beitrittskandidat müsse die Türkei die Rechte gewählter Politiker wahren. Man wolle, dass das Land in Europa verankert bleibe. „Das erfordert aber ein klares Bekenntnis zu demokratischen Normen und Praktiken.“ Ratspräsident António Costa schloss sich diesen Worten an. Zehn Tage ist das nun her. Der wichtigste Oppositionspolitiker des Landes sitzt inzwischen in Untersuchungshaft. Doch EU-Kommission und der Rat der Mitgliedstaaten sind in kollektives Schweigen ver­fallen.

Fast scheint es so, als versuche man die innenpolitische Eskalation zu ignorieren und weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Am Tag der Festnahme stellte die Kommission ihren Gesetzentwurf für das 150 Milliarden Euro schwere Kreditprogramm zur Aufrüstung vor. Türkische Rüstungsproduzenten werden dabei eingeschlossen, anders als britische. Nach den Beratungen im Europäischen Rat über die Ukraine unterrichteten Costa und von der Leyen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan über die Ergebnisse. Als ein Sprecher der Kommission Anfang der Woche danach gefragt wurde, verwies er darauf, dass die Türkei schließlich Teil einer „Koalition der Willigen“ zur Unterstützung Kiews sein wolle.

Als Nächstes stehen zwei „ranghohe Dialoge“ mit Ankara bevor, einer zur Wirtschaft und ein weiterer zu Sicherheit und Migration. Dabei treffen sich die zuständigen Kommissare mit türkischen Ministern – das gehört zur sogenannten positiven Agenda mit Ankara, auf die sich die Mitgliedstaaten vor einem Jahr verständigt hatten. Am Montag sagte ein Kommissionssprecher, er wolle über eine Absage nicht spekulieren. Am Freitag erhielt die F.A.Z. dann die klare Antwort aus der Kommission, dass die Dialoge stattfinden sollen – das erste Treffen zur Wirtschaft schon im April. „Wir werden diese Gelegenheit nutzen, um auch über die Frei­lassung İmamoğlus zu sprechen“, hieß es. Man sei zu dem Schluss gekommen, dass eine Absage kein Druckmittel sei. Aus demselben Grund würden auch die Konsultationen über eine Modernisierung der Zollunion und über visumfreie Einreisen für Türken in die EU fortgesetzt.

Die Mitgliedstaaten sind ganz auf Linie der Kommission

Das sehen freilich nicht alle Akteure in Brüssel so. Das Europäische Parlament wird am Dienstag über die „Niederschlagung der Demokratie in der Türkei und Verhaftung von Ekrem İmamoğlu“ debattieren. Das Thema wurde kurzfristig auf die Tagesordnung gesetzt, erwartet wird dann auch eine Stellungnahme der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas. Der au­ßen­politische Sprecher der größten Fraktion, der CDU-Abgeordnete Michael Gahler, sagte der F.A.Z. am Freitag: „Solange die Verhaftung İmamoğlus andauert, kann es kein Business as usual mit der Türkei geben.“ Das betreffe auch an sich wünschenswerte Themen wie eine Annäherung bei der Zollunion und bei der Befreiung von der Visumpflicht. „Es wäre auch das falsche Signal, jetzt Ministertreffen abzuhalten“, fügte Gahler hinzu. Das wird man am Dienstag auch aus vielen anderen Fraktionen hören. Für die Sozial­demokraten kommt noch hinzu, dass die CHP, die den verhafteten İmamoğlu zu ihrem Präsidentschaftskandidaten gekürt hat, der eigenen Parteienfamilie angehört.

Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu im Januar in Istanbul
Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu im Januar in Istanbuldpa

Allerdings sind die Mitgliedstaaten, auf die es in der Außenpolitik ankommt, bisher ganz auf der Linie der Kommission. Das gilt auch für Deutschland, obwohl Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vorige Woche in Brüssel die Freilassung des Politikers forderte und sagte, dass die Festnahme ein „sehr, sehr schlechtes Zeichen“ für das Verhältnis der Türkei zu Europa sei. Bisher hat Deutschland keinerlei Initiative in den Ratsgremien ergriffen, um diesen Worten Taten folgen zu lassen, wie Diplomaten bestätigten. Das ist deshalb wichtig, weil sich Berlin im Konzert der Mitgliedstaaten stets am stärksten für die „positive Agenda“ eingesetzt hat. Freilich halten derzeit auch andere Staaten, die Ankara kritischer beurteilen, die Füße still.

In Hintergrundgesprächen geben Di­plomaten dafür vor allem zwei Gründe an. Zum einen heißt es, dass man kein echtes Druckmittel mehr habe, seit die Beitrittsverhandlungen Ende 2016 eingefroren wurden – seinerzeit in Reaktion auf die Verhaftungswelle nach dem Putschversuch in der Türkei. Ein formeller Abbruch stehe weiterhin nicht zur Debatte. Die Gespräche über eine Ausweitung der Zollunion, etwa auf Dienstleistungen, seien auch im europäischen Interesse. Für die Zusammenarbeit bei der Migration gilt das ohnehin. Als von der Leyen Mitte Dezember Erdoğan besuchte, brachte sie als Gastgeschenk eine weitere Milliarde Euro zur Unterstützung der syrischen Flüchtlinge im Land mit. Insgesamt hat die EU dafür seit 2016 schon zehn Milliarden Euro aufgewendet, auch als alle anderen Kontakte am Boden lagen.

Die konstruktive außenpolitische Rolle Ankaras

Zum anderen weisen Diplomaten immer wieder auf den „geänderten geo­politischen Kontext“ hin. Erdoğan habe geschickt ausgenutzt, dass er von amerikanischer Seite keinerlei Verurteilung für sein autoritäres Gebaren fürchten müsse. Mit seinem Angebot, Truppen zur Überwachung eines Waffenstillstands in der Ukraine zu schicken, sei er in der Gunst des US-Präsidenten Donald Trump vielmehr gestiegen. Die EU wiederum sei gut beraten, angesichts der US-Zölle ihre Partner um sich zu scharen.

Hervorge­hoben wird auch von EU-Seite die konstruktive Rolle, die Ankara außenpolitisch spielt. Das betrifft die zeitweilige Absicherung der ukrainischen Getreideexporte über das Schwarze Meer und die jüngsten Ent­wicklungen in Syrien. Das Abkommen zwischen den neuen Machtha­bern dort und den Kurden, das deren Integration in die neuen Machtstrukturen vorsieht, wird auch Erdoğan als Erfolg zugeschrieben. Er habe gerade „einen Lauf“, heißt es.

Wird die Verhaftung İmamoğlus also ohne Folgen in der EU bleiben? Sicher ist das nicht. Alle Akteure in Brüssel sagen, dass sie die Lage genau beobachten. Sollte Erdoğan die Proteste im Land gewaltsam niederschlagen und wieder Tausende Menschen in Haft nehmen, dann werde man darauf reagieren müssen, heißt es.