Das Jahr der Entscheidungen | FAZ

Glaubt man den Worten des Kanzlers, geht es im neuen Jahr richtig rund. „Es wird sich ein Winter, ein Frühling, ein Sommer, ein nächster Herbst mit Reformen anschließen“, sagte Friedrich Merz schon im vorigen September, als erste Zweifel aufkamen, ob es mit dem „Herbst der Reformen“ im alten Jahr noch richtig viel werden würde. Das ließ insofern staunen, als der CDU-Vorsitzende im Wahlkampf eigentlich versprochen hatte, das Dringlichste zum Ankurbeln der Wirtschaft schon vor dem vergangenen Sommer zu erledigen. Durch eine Rhetorik, die das Land vor dem Untergang sah, hat er damals die Erwartungen hochgeschraubt.

Spricht man zum Jahreswechsel mit Akteuren aus Union und SPD, so sind sie einigermaßen überzeugt, dass sich 2026 tatsächlich viel ändern wird. Ob sich das alles im Rahmen des Angekündigten und Erwarteten bewegt, darüber gehen die Ansichten allerdings weit auseinander.

Gesetze, die richtig viel kosten

Bislang konnten sich die Koalitionäre vor allem auf Gesetze einigen, die richtig viel Geld kosten. Was die Energie betrifft, senken sie die Netzentgelte, die Stromsteuer für die Industrie, sogar die Speicherumlage für klimaschädliches Gas, sie befreien E-Autos von der Steuer, fördern ihre Anschaffung als Dienstwagen und bereiten eine Kaufprämie für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen vor.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



In der Rentenpolitik bekam die SPD ihre Haltelinie, die CSU ihre Mütterrente und die CDU ihren steuerfreien Zuverdienst, von dem noch nicht feststeht, ob er vor allem Mitnahmeeffekte erzeugt. Die Regierung reformiert die alte Riester-Rente und macht sie dadurch attraktiver, was die Kosten für Zulagen und Steuernachlässe erhöhen wird. Sie zahlt Kindern ab sechs Jahren einen Zuschuss, um beizeiten fürs Alter vorzusorgen, auch wenn der Name „Frühstart-Rente“ eher ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben suggeriert.

Wohltaten für Spesenritter

Sie erhöht die Pendlerpauschale und senkt die Mehrwertsteuer in der Gastronomie, was vor allem besser verdienenden Spesenrittern zugutekommt. Die Unternehmen können Investitionen leichter abschreiben, von 2028 an sollen für sie die Steuern sinken. Die Regierung nimmt die Geflüchteten aus der Ukraine aus der Grundsicherung heraus, was den Zugang zu Jobcentern samt Arbeitsvermittlung erschwert, den Staat also viel kosten kann – auch wenn es den Migrationspolitikern als symbolisch wichtig gilt. Von den Investitionen in die Infrastruktur und der Ertüchtigung der Bundeswehr gar nicht zu reden, die von der Schuldenbremse ausgenommen sind.

Geht es nach manchen Regierungspolitikern und einigen Wirtschaftsvertretern, könnte es geradewegs so weitergehen. Die Stromsteuer für Privathaushalte ist noch immer nicht gesenkt, ein klarer Bruch von Wahlversprechen. Die geringeren Unternehmensteuern könnten früher kommen, finden viele. Ideen, wie der Staat mit Mehrausgaben die Konjunktur ankurbeln könnte, gibt es reichlich.

Das Problem ist bloß: So wird es nicht funktionieren.

Früh im Jahr beginnen die Gespräche über den Bundeshaushalt 2027. Bis zum Sommer soll der detaillierte Entwurf stehen, will sich Schwarz-Rot nicht in den gleichen Krisenmodus wie die alte Ampelregierung begeben. 50 bis 60 Milliarden Euro müssen eingespart werden, heißt es, mindestens zehn Prozent des gesamten Etats. Im Folgejahr, an das noch niemand denken möchte, wird es noch mal so viel sein. „Disruptiv“ ist ein Wort, das im Zusammenhang mit den nötigen Einsparungen gelegentlich fällt.

Das Verschieben hat Grenzen

Manche mag das überraschen. Einer Regierung, die gerade Rekordschulden für Investitionen und Bundeswehr beschlossen hat, geht schon wieder das Geld aus – obwohl das Verschieben in diese Sondertöpfe doch neue Spielräume schafft?

Nun ja, Mehrausgaben hat die Koalition reichlich beschlossen. Hinzu kommt die lahmende Konjunktur, trotz kleiner Wachstumsaussichten von 2026 an. Die weltpolitische Lage tut ein Übriges: Die Exporte nach China sind zuletzt um zwölf Prozent eingebrochen, die Auto-Ausfuhren in die Vereinigten Staaten um 15 Prozent. Das Verschieben von Haushaltsposten hat Grenzen, die Zuschüsse zu den Sozialversicherungen steigen, und die Ausnahmen von der inländischen Schuldenbremse setzen die EU-Regeln für die Kreditaufnahme nicht außer Kraft.

Weit gefasste Vorgaben

Am meisten Lärm gab es zuletzt um die Zukunft der Rente, das wird wohl auch im neuen Jahr so bleiben. Bis zum Sommer soll die Rentenkommission ihre Vorschläge machen. Schaut man auf die Zusammensetzung, etwa den Organisationsexperten Frank-Jürgen Weise als Ko-Vorsitzenden oder auf Mitglieder wie den früheren Caritas-Geschäftsführer Georg Cremer, der immer wieder mit Ideen quer zu den ideologischen Fronten aufgefallen ist, dann könnte es durchaus sein, dass auch Vorschläge jenseits des Erwarteten herauskommen.

Die politischen Vorgaben sind jedenfalls weit gefasst, in den Einsetzungsbeschluss haben Vertreter der drei Koalitionsparteien ungefähr alles hineingepackt, was derzeit an Ideen kursiert. Neben einem höheren Eintrittsalter oder einem geringeren Rentenanstieg stehen darin andererseits auch Vorschläge wie das Einbeziehen von Beamten, Selbständigen oder Kapitalerträgen, auch ein stärker differenzier Renteneintritt nach Berufsjahren.

Die Rente drängt nicht am meisten

Auf den Ruf nach einer „Reform“ können sich alle nur so lange einigen, bis es konkret wird, das ist das Schicksal aller Reformprozesse. Und am Ende werden diejenigen, die gewiss ein kleines bisschen verlieren, immer lauter sein als jene, die in der Zukunft womöglich viel gewinnen.

So laut derzeit über die Rente gestritten wird: Sie ist aktuell gar nicht das drängendste Problem. Viel schneller steigen die Kosten in der Kranken- und Pflegeversicherung. Um den Haushalt formal nicht zu belasten, hilft der Bund mit kurzfristigen Krediten aus, was das Problem für die Folgejahre verschärft. Das hat auch mit früheren Reformen eines Gesundheitsministers namens Jens Spahn zu tun: Seither mussten zum Beispiel die Kliniken ihr Pflegepersonal aufstocken, die Gehälter übernehmen die Kassen, und zwar in beliebiger Höhe.

Kleine Reförmchen wie die geplante Hausarztpflicht werden die Schwierigkeiten eher vergrößern, denn jeder weiß: Wer mit dem Wunsch nach einer Überweisung die Hausarztpraxis betritt, kommt meist mit mehreren dieser Scheine wieder heraus („das sollten wir zur Sicherheit auch noch abklären“), eine mindestens einwöchige Krankschreibung und mehrere Rezepte für Medikamente bekommt man dann auch noch aufgedrängt. Wenn sich die Beschwerden nach wenigen Tagen von selbst legen, wandern die Tabletten in den Sondermüll.

Erstaunlich kühle Auskünfte

Theoretisch weiß jeder halbwegs beschlagene Experte zu erklären, wie eine kostensparende Straffung des Systems sogar zu besserer Qualität führen kann. Praktisch stößt das auf den erbitterten Widerstand zahlreicher Lobbygruppen, außerdem würde es eher langfristig Früchte tragen. Also wird es wohl Leistungskürzungen, Zuzahlungen oder Ähnliches geben.

Fragt man die Leute im Maschinenraum von Union und SPD, wie das in einem Jahr mit heiklen Landtagswahlen gelingen soll, bekommt man erstaunlich kühle Auskünfte. Der Spardruck, so der Tenor, wird es erzwingen. Das erscheint kaum glaubhaft in einem Jahr, in dem die SPD ihre Führungsrolle in Mainz und Schwerin verteidigt, die AfD in Magdeburg zur stärksten Partei werden könnte und der schon sicher geglaubte CDU-Sieg in Stuttgart auch wegen des bundespolitischen Umfelds vielleicht doch noch wackelt (die ohnehin undurchsichtige Landespolitik in Berlin, versichern alle, spiele eine geringere Rolle).

Aber vielleicht kommt es ja wirklich so. Der frühere SPD-Kanzler Gerhard Schröder konnte am Schluss ja auch keine Rücksicht mehr auf Landtagswahlen nehmen, als ihm schlichtweg das Geld ausging. Die Niederlage in Nordrhein-Westfalen kostete ihn dann zwar das Amt, allerdings aus freier Entscheidung. Womöglich hätte es geholfen, einfach die Nerven zu behalten. Ob die Voraussetzungen dafür in der heutigen Zeit verstärkter Aufgeregtheiten besser sind, steht auf einem anderen Blatt.

Ein schwieriges Thema für die SPD

Natürlich gibt es auch Reformprojekte, die erst mal gar nicht so viel mit Geld zu tun haben. Flexiblere Arbeitszeiten zum Beispiel. Schwarz-Rot wolle „die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen“, so steht es im Koalitionsvertrag. Davon war seither nicht mehr die Rede. Das Thema ist für die SPD schwierig, die Einführung des Achtstundentags mit dem Stinnes-Legien-Abkommen von 1918 gilt vielen Sozialdemokraten als größte Errungenschaft in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Allerdings unterschied sich die Maloche von damals erheblich vom heutigen Arbeitsalltag, in dem viele Beschäftigte selbst ihre Zeit einteilen wollen. Auf der anderen Seite wünschen sich manche in der SPD höhere Steuern, etwa was Unternehmenserbschaften betrifft. So etwas gilt auch dem pragmatischen Parteiflügel als populär.

Bleibt das große Feld der Entbürokratisierung. Die Regierung selbst sieht sich hier auf einem guten Weg. „Modernisierungsagenda Bund“, „Föderale Modernisierungsagenda von Bund und Ländern“, Vergabebeschleunigung, digitale Brieftasche: Fast wird einem schwindelig von all den Projekten. Der Vorteil, den Digitalminister Karsten Wildberger gegenüber manchen Kollegen hat: Seine Projekte kosten nicht viel Geld, sie sparen in der Regel sogar welches. Dass die Behörden aufgrund des Arbeitskräftemangels womöglich gar nicht alle Stellen besetzen können, über die sie verfügen, tut ein Übriges. Auch auf europäischer Ebene tut sich etwas.

Welche Subvention wird eingestampft?

Auf die Frage nach Sparoptionen fällt in diesen Tagen oft auch der Hinweis, dass ein Blick in den Subventionsbericht der Bundesregierung lohne. Es klingt erst mal erfreulich, dass die Regierung zumindest einige ihrer teils widersprüchlichen Förderprogramme einstampfen könnte. Bislang allerdings hat sie eher das Gegenteil getan.

Den von der Ampelregierung hart erkämpften Wegfall der Agrardiesel-Vergünstigung hat sie als eines ihrer prioritären Projekte wieder eingestampft, die Teilrücknahme des Heizungsgesetzes soll womöglich mit großzügiger Förderung für Klein- und Mittelverdiener kompensiert werden, auch der Steuerbonus für Restaurants gehört in diese Reihe.

Der Bund gibt pro Jahr 1,2 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung für direkte Beihilfen aus, mehr als viele andere Länder in Europa. Signifikant mehr ist es eigentlich nur in der ungarischen Günstlingswirtschaft Viktor Orbáns, ein bisschen mehr in Frankreich oder Polen. Andere Staaten wie Italien, Spanien oder die Niederlande liegen teils deutlich darunter.

Die Summe hat sich in den vergangenen Jahren auf knapp 60 Milliarden Euro pro Jahr mehr als verdoppelt. Ein großer Teil davon entfällt auf die Energiepolitik im weitesten Sinn, von Strombeihilfen über Heizungsförderung bis zu Subventionen für Ladesäulen. Hinzu kommen der Anteil des Bundes von fast 20 Milliarden Euro an Steuervergünstigungen, von privaten Handwerkerleistungen bis zu steuerfreien Nachtzuschlägen. Auch die Landwirtschaft spielt eine große Rolle.

Mit dem Koalitionsvertrag wird vieles davon nichts mehr zu tun haben, aber der ist in wesentlichen Teilen ohnehin bald „abgearbeitet“, wie es im Berliner Jargon heißt. Für die Ampelregierung begannen damit die Probleme. Mal sehen, wie es Friedrich Merz und Lars Klingbeil ergeht.