„Das Dinner“ am Deutschen Theater Berlin mit Ulrich Matthes

Da sitzen sie also: In einem Luxusrestaurant vor der blitzblanken Glasscheibe. Dahinter die Showküche, transparent, einsichtig, die Pirouetten der Profiköche bis ins letzte Detail nachverfolgbar. Das Auge isst mit und lächelt befriedigt, wenn es den Rosmarin aus dem kücheneigenen Kräutergarten sieht, der eine Olive aus der Peloponnes „krönt“, die in einem Tropfen „Extra Virgin“ badet. Der Chablis aus dem Jahr 2014 als letzter Ankerpunkt für die wohlstandsverwahrloste Leer-Elite.

Draußen brüllen die Rechtspopulisten, drinnen hebt der sozialdemokratische Kandidat das Glas. Er, Serge Lohmann, ist mit Ehefrau Babette gekommen, um mit seinem Bruder Paul und dessen Frau Claire einen unangenehmen Zwischenfall zu besprechen. Aber bevor es ans Eingemachte geht, geht es erst einmal ums Zubereitete. Um das vegane Menü oder den „vibrierend lebendigen“ Hausaperitif, die „ikonische“ Prise Kardamom oder die Affinage des Ziegenkäses. Der Kellner (von Andri Schenardi mit einer Mischung aus Verachtung und Zuvorkommenheit gespielt) spreizt bei der Menüvorstellung den kleinen Finger impertinent und geht mit seinem virtuosen Vokabular aufs gastronomisch Ganze. Paul, der von seinem Lehrerberuf wegen zweifelhafter historischer Vergleiche suspendiert wurde und ansonsten in der Kneipe gegenüber sein Bier trinkt, leidet physisch an dem „Gegurgel und Geschnüffel“ seines Bruders. Serge ist ein typischer „Gauche caviar“, der sich mit hoffnungsvollen Jungwählern fotografieren lässt, um dann beim nächsten Schluck Chablis angewidert über sie herzuziehen.

Halbherzige Kleinbürger

Links reden, rechts leben – darin erkennt er, den Bernd Moss als Karikatur des politischen Scheinriesen anlegt, nicht einmal mehr den Widerspruch. Paul fühlt ihn schon noch, kann ihn aber nicht mehr äußern. Er flüchtet im entscheidenden Moment lieber auf die Toilette oder verzieht hilflos das Gesicht. Ulrich Matthes, der große Virtuose des einfühlenden Realismus, gibt Paul als halbherzigen Kleinbürger, der sich vor dem gespreizten kleinen Finger des Kellners mehr ekelt als vor dem Hinterleib einer Tarantel. Auf mitreißend unterhaltsame Weise changiert er zwischen fatalistischer Weltabgewandtheit und aufwallendem Protestgestus gegen die würdelose Inszenierung von Genuss, die keinen Raum für irgendeine Wahrheit lässt. Alles wirkt verlogen und vorgeführt, jedes „Bon Appétit“ hat etwas paulushaft Verräterisches an sich, es ist, als ob sich mit jedem neuen Gang, mit jeder neuen Menüvorstellung ein weiterer Schleier aus Duftstoff und Verzierung über die Tatsachen legte.

Aber um ebenjene muss es heute auch noch gehen. Dafür sorgen an diesem Abend rollengerecht die Frauen, insbesondere Babette, die Wiebke Mollenhauer als einen Verschnitt aus alterndem Vamp und kämpferischer Marianne anlegt. Sie bringt das Thema auf den Tisch. Wirft es mitten in das edle Arrangement hinein. Und da liegt es nun, düster und grauenvoll, vor ihnen, den „Lemuren des Kapitals, Futter für meinen Ekel am Heute und Hier“ (Heiner Müller). Ihre halbwüchsigen Kinder haben eine Obdachlose angezündet, weil sie ihnen beim Gang zum Geldautomaten im Weg lag. Banalität des bös Brutalen, ein Totschlag für die feiernde Youtube-Gemeinde, „Funny Game“ am Ende einer betrunkenen Nacht. Rechtfertigen werden es die beiden Täter später mit dem „bestialischen Gestank“, der von diesem schmutzigen Wesen ausging. Inbegriff eines Sozialhasses, dem keine Moral mehr Grenzen setzt, der nur noch den Gesetzen der sozialmedialen Aufmerksamkeit gehorcht.

Eine Mordtat wird zum Unglück herabgestuft

Eine wahre Geschichte, die der niederländische Autor Herman Koch da in seinem 2016 erschienenen Roman „Het Diner“ erzählt. Grauenvolle Berichte von Jugendlichen, die sich an den Schwächsten der Gesellschaft vergehen, die ihre Tritte und Schläge gegen wehrlose Körper auf der Straße filmen und feiern, gibt es beispielsweise auch aus Berlin. Verfallszeichen einer abgestumpften Displaygeneration, die das Gefühl nur noch als Like-Button kennt.

Im Grunde nichts, worüber man groß verhandeln müsste – die Tat verlangt nach einer einschüchternden Strafe. Aber da in diesem Fall eben auch der Sohn eines wahlkämpfenden Spitzenpolitikers beteiligt ist, wird über „Optionen“ gesprochen, verheddern sich die Eltern in einem nichtswürdigen Kuddelmuddel aus Ausweichstrategien und Erklärungen. Maren Eggert geht dabei als schutzbereite Mutter am weitesten, indem sie die Schuld umkehrt und die Mordtat zum fahrlässigen „Unglück“ herunterstuft. Immerhin geht es hier um Zukunft: um die Zukunft ihrer Kinder und um die Zukunft eines Politikers, der als Einziger die „Machtergreifung der Rechtsradikalen“ verhindern kann. Somit ist das „Moral-Drama“ angerichtet und die recht überschaubare Frage gestellt: „Was würden Sie tun?“

Es ist ein Kennzeichen dieses von András Dömötör übersichtlich inszenierten Konversationsabends, dass er in seinem ersten, leichteren Teil stärker wirkt als in seinem zweiten, schwereren. Das liegt auch daran, dass er hier mehr auf die Anziehungskraft der Dialoge, das schnelle Hin und Her von witzigen Worten und bissigen Anwürfen vertraut, während er im zweiten Teil immer wieder die moralischen Hintergrundgedanken im Prosastil nachliefert. Dadurch bekommt der Abend eine pädagogische Unwucht, an der auch schon die Vorlage krankt, die hier aber durch das Gegenüber von beiläufiger Tischkonversation und bedeutungsvollem Apart noch stärker ins Gewicht fällt. Am Ende folgt man dem leeren Fressen mit größerer Anteilnahme als der herbeiinszenierten Moral. Und wünscht sich insgeheim, Ulrich Matthes noch einmal panisch vor dem gespreizten Achtungsfinger des Kellners zurückweichen zu sehen.