
Aus der Fabriksporthalle in Frankfurt-Fechenheim dröhnt lauter Bass. Elektronische Beats bauen sich auf, dann springt Thanh Nguyen ab, wirbelt einmal, zweimal durch die Luft, klatscht in die Hände, greift die Stange und balanciert sich in einen Handstand. Was aussieht wie ein Tanz mit der Schwerkraft ist das Ergebnis jahrelangen Trainings: Freestyle Calisthenics – eine Mischung aus Kraft, Akrobatik und Choreographie.
Nguyen ist mehrmaliger deutscher Meister und Mitbegründer von „Flythenics“, einer Community von Profiathleten, die den Sport in der Rhein-Main-Region prägt. Und auch andersherum: „Calisthenics hat mein Leben verändert“, sagt der 30-Jährige. Mittlerweile ist er zu einer Identifikationsfigur der Szene geworden.
„Mit sehr wenig sehr viel erreichen“
Calisthenics, klassisches wie Freestyle, setzt allein auf das eigene Körpergewicht. Trainiert wird an Stangen – den sogenannten Bars – oder schlicht auf dem Boden. „Mit sehr wenig sehr viel erreichen“, sagt Nguyen. Was nach minimalistischer Bewegung klingt, verlangt in der Praxis Höchstleistung.
Das Repertoire reicht vom klassischen Liegestütz über Klimmzüge bis zur „Human Flag“, bei der der Körper waagerecht wie eine Flagge in der Luft schwebt. Besonders gestärkt wird die Tiefenmuskulatur, wie beim Pilates oder Yoga, „nur spektakulärer“.

Die Faszination liegt in der Vielfalt. Laut Nguyen sollte ein Athlet fünf Disziplinen beherrschen: Zugübungen, Druckübungen, statische und dynamische Elemente – und nicht zuletzt Kreativität. Wer all das mitbringt, gilt als „complete“ und hat im Wettkampf gute Chancen. Aber auch im Alltag, sagt Nguyen, mache sich das Training bemerkbar: Getränkekisten schleppen, Umzüge, all das falle plötzlich leichter.
Dass Frankfurt zur Hochburg der Szene wurde, ist auch Nguyen zu verdanken. Mehr als 30 Parks gibt es mittlerweile in der Stadt und Umgebung. Und doch steht vieles auf wackeligen Beinen. Im Winter leeren sich die Plätze, die Halle in Fechenheim bietet nur wenigen einen Trainingsplatz. An diesem Abend sind vier Athleten gekommen, bauen das mobile Setup auf: eine Freestyle-Bar, einen Parallelbarren, Turnmatten.
Der Wunsch: eine Indoor-Anlage
„Wir investieren viel Arbeit, dass die Community über den Sommer wächst“, sagt Nguyen, „doch sobald es kälter wird, löst sich das langsam wieder auf.“ Sein Wunsch: eine Indoor-Anlage, ganzjährig nutzbar. „Sonst gehen wir im Sommer einen Schritt voraus, aber im Winter wieder zwei Schritte zurück.“
Offiziell sei dieser Wunsch bisher nicht formuliert worden, sagt Sabine Landau, Mitarbeiterin des Sportamtes Frankfurt. Das will Nguyen noch dieses Jahr ändern. Das Sportamt zeigt sich offen: Die vergangenen drei Deutschen Meisterschaften im Freestyle Calisthenics fanden in der Fabriksporthalle statt – unterstützt von der Stadt und dem Sportkreis.
Nguyens Weg begann im Hafenpark, eine der ikonischsten Calisthenics-Anlagen Deutschlands im Schatten der Europäischen Zentralbank. Vor zehn Jahren schaffte er kaum ein paar Liegestütze. „Ich habe mich schwach gefühlt, geschämt und dachte, Calisthenics ist nichts für mich“, erinnert er sich.
Doch Freunde zogen ihn mit, ehrenamtliche Trainer inspirierten ihn mit Bewegungen „wie in Actionfilmen“. Was ihn damals packte, begeistert ihn noch heute: „die Möglichkeit, die Erdanziehungskraft einfach auszuschalten und den Zuschauern das Gefühl zu geben, dass man fliegt“.
Es zählt längst nicht nur die Muskelkraft
Dafür trainiert er drei- bis fünfmal die Woche, sein Spezialgebiet: Freestyle. In Wettkämpfen bleiben den Athleten 60 Sekunden pro Runde, um mit einer Choreographie aus Sprüngen, Drehungen und spektakulären Posen zu beeindrucken. „Die Challenge ist, das Unmögliche leicht aussehen zu lassen“, sagt Nguyen.
Bewertet wird nach Schwierigkeit, Ausführung, Kreativität und Kombination. Doch die Anforderungen wachsen: „Vor ein paar Jahren war ein Three-Sixty krass, heute sind 720-Grad-Drehungen Standard“, erzählt Nguyen. Einige Athleten würden sogar bereits drei Drehungen um die eigene Körperachse schaffen.
Dabei ist es längst nicht nur Muskelkraft, die zählt. Die mentale Komponente sei mindestens genauso entscheidend, sagt Nguyen. „Wenn du an eine neue Übung gehst und dir sagst: ‚Ich werde wahrscheinlich fallen‘, dann wirst du auch fallen.“ Sich selbst positiv zu motivieren, sei eine der größten Herausforderungen, vor allem bei schwierigen oder riskanten Moves: „Du musst glauben, dass du ihn schon geschafft hast.“
Mit diesem Mindset tritt er nun vor die Stange. Er reibt sich die Hände mit Chalk ein, richtet die Handystative aus, wählt einen Song und startet auf den musikalischen Drop eine Abfolge von Drehungen, Schwüngen, einem Salto und einer sauberen Landung. Drei Smartphones filmen seine Choreographie aus verschiedenen Perspektiven. Denn was als Hobby begann, ist für ihn längst zum Beruf geworden.
„Viele Jugendliche sind perspektivlos“
Nguyen dokumentiert jede Trainingseinheit, teilt Fortschritte in sozialen Netzwerken und erkannte früh das Potential, damit Reichweite aufzubauen. Er professionalisierte seine Inhalte, bildete sich weiter, machte Trainerlizenzen und gab Kurse. Heute ist er im Social-Media-Management beim Sportkreis Frankfurt tätig, betreut Calisthenics-Projekte, organisiert Events.
Besonders am Herzen liegt Nguyen die Arbeit mit jungen Menschen. In Workshops mit Schulen oder Jugendzentren wie in Fechenheim gibt er seine Erfahrung weiter. „Viele Jugendliche sind perspektivlos, haben Energie, wissen aber nicht, wohin damit“, sagt er. Auch er war einst orientierungslos, rauchte, ernährte sich schlecht. Calisthenics gab ihm Halt.
Oft steht am Anfang ein scheinbar unerreichbares Ziel. Der erste Klimmzug ist für viele die größte Hürde. Nguyen kennt das Gefühl – und weiß, wie man sie überwindet: „Ich konnte wirklich gar nichts, ich habe von null angefangen.“ Doch schon nach einer Woche Training gelang ihm der erste Klimmzug.
Dahin gibt es viele Wege: mit unterstützenden Gummibändern, Partnerhilfe oder über sogenannte negative Wiederholungen, bei denen man sich langsam von oben nach unten absenkt. Wichtig sei vor allem eines: „Inspiration holen – im Netz oder im Park, Leute fragen, sich trauen, einfach jemanden anzusprechen. Die meisten helfen gerne.“
„Die Stangen rostig, der Boden geflickt“
Doch nicht alle haben dieses Umfeld. Viele Parks sind sanierungsbedürftig, auch der Hafenpark sei in die Jahre gekommen: „Früher trainierten hundert Leute an zwei Stangen. Heute sind sie verrostet, der Boden geflickt.“ Auch das mobile Setup, abgesichert durch Schulsportmatten, sei nicht ganz sicher, sagt Nguyen.
Und selbst neue Anlagen seien nicht immer durchdacht: Im Galluspark wurden beim Bau zwei Stangen vertauscht – der Barren war unbrauchbar. Inzwischen wurde das Problem behoben, aber für Nguyen ist klar: „Es ist wichtig, die Athleten in die Planung miteinzubeziehen.“

Beim Sportamt ist man sich der Bedeutung bewusst. „Die Calisthenics-Community wächst, daher sind wir froh über das umfangreiche und flächendeckende Angebot“, sagt Landau. Ziel sei es, „niedrigschwellige Bewegungsangebote im öffentlichen Raum zu fördern, die Menschen unterschiedlichen Alters und Fitnessniveaus ansprechen.“
Aktionen auf der Zeil oder in Einkaufszentren bringen den Sport in die Öffentlichkeit. Das findet Nguyen wichtig: „Damit Menschen überhaupt erfahren: Hey, da ist eine coole Sportart draußen, die man sonst kaum mitbekommt.“
Es begann mit einem einzigen Klimmzug
Im Vorstand des Deutschen Calisthenics und Streetlifting Verbandes arbeitet Nguyen daran, die Sportart weiter zu professionalisieren. Denn obwohl deutsche Athleten bei internationalen Wettkämpfen erfolgreich sind, fehlt es an offizieller Anerkennung. „Die Athleten haben fast gar keine Perspektive, weil es kaum Förderstrukturen gibt. Dabei vertreten wir Deutschland weltweit“, sagt Nguyen. Für ihn ist klar: „Ich habe mein Ziel als Athlet erreicht. Jetzt geht’s darum, den Sport weiterzubringen.“
Im Sommer feiert er sein Calisthenics-Jubiläum – zehn Jahre, die mit einem einzigen Klimmzug begannen. Dieses Jahr möchte er noch einen letzten Wettkampf bestreiten und dafür ein Event in Frankfurt organisieren. „Einfach, damit die Community wieder zusammenkommt.“ Denn was ihn antreibt, ist längst mehr als nur Muskelkraft.