

Der Enquetekommission des Bundestags zur Corona-Pandemie, die am Montag abermals in Berlin tagte, geht es darum, Lehren aus der mehrjährigen Infektions- und Krisenzeit zu ziehen. Die Befragungen drehen sich auch um die Kosten und Mengen der Schutzmasken. Deren Beschaffung hat Unions-Fraktionschef Jens Spahn (CDU) in Bedrängnis gebracht, den damaligen Gesundheitsminister. Er trat am Montagnachmittag vor der Kommission auf. Zuvor hatte er in der ARD gesagt, man habe seinerzeit zu viel Schutzausrüstung bestellt. „Aber wir wollten eben vorsorgen für alles, was kommen konnte: Wir hatten am Anfang von allem zu wenig und am Ende von allem zu viel, besser als andersherum.“
Neben der Maskendebatte geht unter, dass auch andere Massenware angeschafft wurde, die zum Teil ebenfalls nicht gebraucht wurde – aber viel Geld kostete. Das betraf zum Beispiel fast 4,7 Millionen Schutzhauben, wie sie in Operationssälen (OP) aufgesetzt werden. Das Groteske daran: Nicht eine einzige dieser OP-Hauben wurde verteilt, alle mussten ungenutzt verbrannt werden. Das geht aus einer Antwort von Gesundheitsstaatssekretärs Tino Sorge (CDU) auf die Anfrage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Paula Piechotta hervor, die der F.A.Z. vorliegt. Zuerst hatte das „Deutsche Ärzteblatt“ darüber berichtet.
Auch von den 37 Millionen Kitteln wurden mehr vernichtet als verteilt, 19,7 Millionen gegenüber 17 Millionen. Rund 330.000 liegen noch auf Lager. Dort, in den Beständen des Bundes, befinden sich auch fast alle beschafften Spritzen, annähernd 27 von 30 Millionen. Von den 9,2 Millionen Schutzanzügen mussten 42 Prozent „thermisch verwertet“ werden, gingen also in Flammen auf. Lediglich 5,3 Millionen wurden gebraucht.
Elf Prozent der Schutzhandeschuhe wurden entsorgt
Besser sieht es mit den Schutzbrillen aus, von denen immerhin 72 Prozent der 3,2 Millionen Stück Verwendung fanden. Aber 27 Prozent lagern noch ein. Von sage und schreibe 314 Millionen Paar Schutzhandschuhen liegen keine auf Halde, aber 33 Millionen wurden entsorgt; elf Prozent. Die Brillen waren mit 12,42 Euro je Stück am teuersten, gefolgt von den zu Abermillionen verbrannten Anzügen, von denen jeder 11,03 Euro kostete.
Am besten lief der Absatz sogenannter Antigenschnelltests am Behandlungsort (Point-of-Care-Tests) für offizielle Befunde, die ähnlich funktionierten wie die Laientests zu Hause. Alle 39 Millionen POC-Tests wurden verwendet. Dennoch war die Verschwendung insgesamt enorm: Selbst ohne die Masken wurden fast 440 Millionen Stück Schutzausrüstung beschafft. Annähernd ein Sechstel, 62 Millionen Einheiten, wurden verschrottet, weitere 28 Millionen Stück lagern nach wie vor ein.
Und wie sieht es mit den finanziellen Verlusten aus? Nach Auskunft des Gesundheitsministeriums von Nina Warken (CDU) an die F.A.Z. kostete die Beschaffung der 437,5 Millionen Einheiten medizinischer und persönlicher Schutzausrüstung (PSA) rund 550 Millionen Euro. Mehr als ein Viertel im Wert von 155 Millionen Euro ist durch die Verbrennung verloren. Waren für weitere 16 Millionen Euro warten in den Regalen auf Verwendung oder Vernichtung. Die höchsten Verluste von fast 104 Millionen Euro entstanden bei überflüssigen Kitteln.
Masken im Wert von 3,5 Milliarden Euro vernichtet
Neue Angaben zu Masken macht das Ministerium nicht. Aber der Bundesrechnungshof hat soeben für die Enquetekommission ermittelt, dass rund 5,8 Milliarden Masken beschafft und nur 1,7 Milliarden verteilt wurden. Mehr als die Hälfte, drei Milliarden, seien vernichtet worden, weitere 400 Millionen für die Verbrennung vorgesehen. Bei einem Durchschnittspreis von 1,02 Euro beträgt der Wert der unverwertbaren Masken 3,5 Milliarden Euro. Hinzu kommen 400 Millionen Masken, die ins Ausland gespendet wurden und 332 Millionen Stück, die auf Lager liegen.
Der Rechnungshof schreibt zu den Gesamtanstrengungen, dass bis 2024 für sieben Milliarden Euro Ausrüstung besorgt wurde. Die Masken kosteten 5,9 Milliarden, also wurden 1,1 Milliarden Euro für andere Produkte verwandt. Das Ministerium berichtet präziser von 6,84 Milliarden Euro Gesamtkosten: 6,26 Milliarden Euro für Schutzausrüstung und 580 Millionen für „medizinische Geräte, Desinfektionsmittel, Medikamente und sonstige Produkte“. Das Geld floss unter anderem für Beatmungsgeräte: Nach früheren Berichten hatte der Bund rund 10.000 Apparate bestellt, nicht einmal die Hälfte wurde aber geliefert. Auch hierfür könnte ein dreistelliger Millionenbetrag in den Wind geschossen worden sein. Piechotta hatte explizit nach Beatmungsgeräten gefragt, aber von Sorge keine Antwort erhalten.
Zu den Belastungen der Steuerzahler für die (übertriebene) Beschaffung kommen noch die Lager- und Vernichtungskosten hinzu. Gegenüber der F.A.Z. beziffert das Ministerium die Ausgaben dafür auf 330 Millionen Euro. Allerdings kann es diese Aufwendungen nur gebündelt angeben, einschließlich der Masken.
Gesamtverlust von 4,1 Milliarden Euro
Der Bundesrechnungshof berichtet allein für die Masken von Annex- oder Folgekosten von 517 Millionen Euro bis 2024. Das bezieht sich ebenfalls auf Logistik, Lagerung und Vernichtung, schließt aber auch externe Kosten ein, etwa für Beratung und Rechtsbeistand. Für 2025 bis 2027 sei mit weiteren 112 Millionen Euro zu rechnen.
Zu den potentiellen Gesamtverlusten zählen überdies die Prozessrisiken aus den Klagen von Lieferanten in den offenen Beschaffungswegen für die Masken (Open-House-Verfahren). Der Streitwert beläuft sich auf 2,3 Milliarden Euro.
Zusammengenommen sind aus der Überbeschaffung Verluste von 4,1 Milliarden Euro bestätigt: 3,6 Milliarden an Warenwert durch unbrauchbare Ausrüstung sowie mehr als 500 Millionen als Folgekosten für Transport, Vernichtung, Lagerung sowie Beratung. Weitere Milliardenzahlungen drohen am Horizont, falls die Kläger recht bekommen. Der Bund hat schon einige Verfahren verloren, darunter auch in der Berufungsinstanz vor dem Oberlandesgericht Köln. Die Regierung wurde zur Zahlung von 42 Millionen Euro verurteilt. Weitere 100 Verfahren sind anhängig, einschließlich Zinsen könnte der Schaden mehr als drei Milliarden Euro erreichen.
Entscheidungsstärke oder Planlosigkeit?
Allerdings ist unwahrscheinlich, dass der Bund alle Prozesse verliert. Dutzende Klagen wurden abgewiesen, Zahlungen in dreistelliger Millionenhöhe vermieden. Selbst die gegen Berlin entschiedenen Fälle sind noch nicht rechtskräftig, solange sie der Bundesrechnungshof überprüft. „Das Bundesministerium für Gesundheit muss im Zusammenhang mit den bislang erfolgten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Köln keine Auszahlungen an Lieferanten von Corona-Schutzmasken leisten“, stellte Sorge gegenüber Piechotta klar.
Die Oppositionspolitikerin ist dennoch empört. Im „Ärzteblatt“ beklagte sie eine „massive Überbeschaffung“ durch das Gesundheitsministerium. „Das ist nicht Ausdruck von Entscheidungsstärke, sondern von Planlosigkeit.“ Die Ärztin, Gesundheits- und Haushaltspolitikerin verlangt „endlich volle Transparenz, damit Steuergeld nicht weiter in Lagerhallen und Verbrennungsanlagen endet.“
Die Regierung widerspricht. Sie sieht zumindest die eingelagerte PSA und die damit verbundenen Kosten nicht als verloren an. Schließlich gehe es um die Vorbeugung neuer Pandemien. „Das Bundesministerium für Gesundheit verteilt weiterhin regelmäßig Schutzausrüstung an entsprechende Bedarfsträger und prüft regelmäßig mögliche Verwendungs- und Verteilungszwecke“, so Warkens Sprecher.
Welche Lehren lassen sich aus der Pandemie ziehen?
Tatsächlich wurde im Frühjahr 2020 auch deshalb so überstürzt und überteuert PSA geordert, weil keine ausreichenden Mengen vorrätig waren. Rücklagen für die Zukunft haben also ihre Berechtigung. Eigentlich sehen das auch die Grünen so. Im Frühjahr 2022 beschloss ihr Bundesvorstand „15 Punkte für ein krisenfestes Land“. Darin hieß es unter anderem: „Bei geeigneter Schutzausrüstung, Medikamenten, medizinischem Material oder Technik braucht es in nationalen Krisen Vorhaltungen.“
Es müsse eine Nationalen Reserve Gesundheitsschutz (NRG) entstehen, forderte die Partei damals. Das sei „eine der ersten Lehren aus der Covid-19-Pandemie“. Auf dem Papier ist der Kapazitätsausbau passiert: 330 Millionen Masken liegen in den Regalen, daneben 28 Millionen Spritzen, Schutzbrillen, Kittel. Doch zum einen ist diese Sicherheit teuer erkauft: durch Milliardenverschwendungen in der Beschaffung und hohe Beseitigungskosten. Zum anderen beklagt der Rechnungshof, dass der Bund die NRG überhaupt nicht ernst nehme.
„Eine rechtliche Grundlage und ein konzeptioneller Rahmen hierfür existieren bis heute nicht“, so die Fachleute. „Die Versorgungssicherheit mit Schutzausrüstung im Gesundheitswesen ist nach wie vor nicht gewährleistet.“ Für die Restbestände fehle es „an einem wirksamen und realistischen Verteilungskonzept“. Überdies habe niemand einen „Überblick, wo welche Produkte für welche Zwecke bevorratet werden“. Selbst für die 1,7 Milliarden ausgegeben Masken gelte: „Inwieweit sie tatsächlich zu Pandemiezwecken eingesetzt wurden, ist ungewiss.“
Deutliche Kritik vom Bundesrechnungshof
Das Urteil der Finanzwächter von vergangener Woche ist vernichtend. Man habe die „massive Überbeschaffung“ mehrfach nachgewiesen und gerügt, gleichwohl bestreite das Gesundheitsministerium (BMG) den Sachverhalt. „Das BMG erkennt die Kritik des Bundesrechnungshofes bis heute nicht an und lässt eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Beschaffungstätigkeit vermissen“, bemängelt die Behörde. „Dies hat die Schaffung klarer Regeln und Strukturen für künftige Krisen nicht befördert.“
Die Kontrolleure sehen deshalb für die Zukunft schwarz. „Wir raten davon ab, in der Pandemie entstandene, dysfunktionale Ad-hoc-Strukturen zu institutionalisieren“, heißt es in der neunzehnseitigen Stellungnahme für die Enquetekommission. „Anstelle einer Bundeszuständigkeit, die unter Umständen eine Verfassungsänderung erfordert, empfehlen wir Vorgaben für eine bedarfsträger- und marktnahe Bevorratung, etwa bei Klinikzentren oder beim Fachgroßhandel.“
Der Rechnungshof spart nicht mit Rügen zu dem, was falsch lief, vor allem während Spahns Amtszeit. „Spätestens im April 2020 hatte sich die Beschaffungspraxis des BMG völlig von dem Beschaffungsziel entfernt“, notieren die Behördenvertreter. Anders als vereinbart, habe sich das Ministerium dafür zuständig erklärt, „den gesamten Wirtschaftszweig Gesundheit“ ein Jahr lang mit PSA zu versorgen, 5,7 Millionen Beschäftigte. Dadurch seien völlig übertriebene Mengen entstanden: „Für eine so weitreichende Exklusivbeschaffung durch das BMG sehen wir weder ein Mandat in Gestalt eines Gremienbeschlusses der Bundesregierung noch eine sachliche Notwendigkeit.“
Die vernichtende Bilanz des Rechnungshofs macht klar, dass die Enquetekommission noch viel Arbeit vor sich hat – und dass Deutschland für die nächste Pandemie kaum besser gerüstet scheint als für die zurückliegende.
