Corona-Lockdown: Ich erinnere mich aber anders

Es gibt eine wiederkehrende rhetorische Figur in der Corona-Aufarbeitung, wir nennen sie hier mal die „flüchtige Anerkennung“, und sie funktioniert so: Ja, sicher, das Virus war eine reale Bedrohung. Ja, sicher musste etwas dagegen unternommen werden. Ja, sicher hat die Impfung geholfen, Krankheitsverläufe zu mildern und überhaupt das Infektionsgeschehen einzudämmen.

Aber …

Aber es wurde viel zu lange an Maßnahmen festgehalten, auch als deren Nutzen schon hochgradig zweifelhaft war.

Aber die Wirkung der Impfung wurde zwischenzeitlich übertrieben.

Aber die Gefährlichkeit einiger späterer Varianten wurde auch übertrieben.

Aber die Kinder …

Aber die Armen …

Aber die psychischen Erkrankungen …

Und jetzt neu: Aber die sogenannte Laborlüge, die mit gewisser Wahrscheinlichkeit doch keine war …

Das Problem an so einem Aber ist: Es verzerrt. Der hintere Part wird von Jahr zu Jahr detailreicher, größer und mächtiger. Der Konsens der Pandemie vor dem Aber schrumpft derweil immer weiter. Bis er nicht mehr ist als ein kleines, formales Zugeständnis, diskursiv nahezu wirkungslos. Das reale Grauen der Krankheit verschwindet hinter den tatsächlichen und vermeintlichen Beschädigungen durch die Maßnahmen gegen diese Pandemie. Das ist auch deshalb merkwürdig, weil es eigentlich immer eine demoskopische Mehrheit gab für diese Maßnahmen, weil die Regierenden ja tatsächlich sehr genau darauf achteten, den Großteil der Bevölkerung auf ihrer Seite zu haben. Nun aber, im Rückblick, ist diese Mehrheit komisch still. So ist die Coronavirus-Pandemie eines der wenigen welthistorischen Ereignisse, deren Geschichte – zumindest in Deutschland – gerade primär von den damaligen Verlierern geschrieben wird.

Dabei führt eine direkte Linie vom berühmten Präventionsparadox zu dem, was man jetzt das Aufarbeitungsparadox nennen könnte. Das Virusgeschehen hat nun mal die Normalität der weitaus meisten deutlich weniger beeinträchtigt als die Maßnahmen dagegen. Nun aber, fünf Jahre später, erneut, und immer wieder zu erklären, warum das eher für Wirksamkeit der Maßnahmen spricht als gegen sie, ist ein mühseliges und unattraktives Geschäft. Niemand, der nicht muss, betreibt es freiwillig. So bleibt es aber an der kleinen Schar tatsächlicher oder mutmaßlicher Verantwortungsträger von damals hängen, die Pandemiepolitik zu verteidigen. 

Die wiederum versuchen einerseits, den Eindruck fehlender Aufarbeitung, andererseits aber auch den Verdacht zu entkräften, sie hätten überzogen oder falsch gehandelt – was der Gegenseite wiederum als Beleg für mangelnden Aufarbeitungswillen dient. Denn Aufarbeitung – dazu führt diese einseitige Angriffssituation fast zwangsläufig – kann hier ja nur bedeuten: Widerruf, Scham und die Bitte um Vergebung. Wo sich aber niemand schämt und jemand wie Christian Drosten vielmehr nachhaltig wütend scheint über das, was ihm gesellschaftlich zugemutet wurde und wird, ist kein Frieden, keine Erkenntnis und schon gar kein gemeinsamer und konstruktiver Aufarbeitungsprozess zu gewinnen.

Damit der irgendwann doch gelingen kann, muss nun ein Aber zum Aber her. Aber: nicht irgendein Aber. Kein exaltiertes „Aber es hätten noch viel mehr Menschen sterben können“. Kein belehrendes „Aber damals war das doch richtig“. Es bringt nichts zu klingen wie eine Schallplatte, die im Frühjahr 2023 auf der buchstäblich letzten Rille hängen geblieben ist. Besser ist ein ruhiges, stabiles Aber mitten im Satz, etwa so: Ich erinnere mich aber anders …

daran, was wir schon während des ersten Lockdowns wussten (sehr wenig)

an den Zeitdruck, unter dem die Politik stand (sehr groß)

daran, wie groß auch in der Bevölkerung lange der Wunsch nach harten, wirkungsvollen Maßnahmen war

daran, wie die Impfung doch gewirkt hat

daran, dass kritische Stimmen auch während der Pandemie viel Raum bekamen

daran, wie harmlos oder eben nicht meine Corona-Erkrankungen waren.

„Ich erinnere mich aber anders“ ist der Satz, den wir uns nicht oft genug sagen können. Er schafft einen Raum, gemeinsam zurückzureisen. Er macht das Gegenüber nicht nieder, er markiert eine Differenz, ohne autoritär zu sein. Er öffnet die Diskussion, ohne den Sprecher selbst zu verzwergen. Und er holt die Betroffenheit, die konkrete und ambivalente menschliche Erfahrung, zurück in eine Aufarbeitungsdebatte, die zuletzt fast nur noch als diskursiver Stellungskampf geführt wurde.   

Denn dass die Aufarbeitung gelingt, dass sich alle gleichermaßen an dem beteiligen, was der Journalist Jonas Schaible die „narrative Nachsorge“ nennt, ist nicht nur für eine mögliche nächste Pandemie wichtig. Was hier mitverhandelt wird, sind allgemein die Möglichkeiten des Regierens in Notlagen, auch wenn diese tückisch daherkommen, so wie bei Corona: als offenes Geschehen und schleichende Katastrophe. Diese Offenheit bei gleichzeitigem Handlungsdruck gilt es anzuerkennen, freilich ohne selbst den Aber-Fehler zu machen. Nicht alles ist während der Corona-Pandemie gut gelaufen, vieles auch nicht, und dass es sich darüber weiterhin zu reden lohnt, darf seinerseits nie zum rein formalen Zugeständnis werden. Kein Aber hier.