In der vergangenen Woche gab es an dieser Stelle frohe Festtagswünsche. Heute wünsche ich ein glückliches neues Jahr! Eines, das noch mehr so faszinierende Comiclektüren bieten möge, wie es sie in jüngerer Zeit gegeben hat.
Einer der erstaunlichsten Comics des vergangenen Jahres – und das meint heute, am letzten Tag des Jahres 2025, immer noch 2024 – war Michèle Fischelsʼ „Outline“. Mit dieser Abschlussarbeit als Grafikstudentin (die der Reprodukt Verlag herausbrachte) gewann die junge Zeichnerin aus Münster den Luchs-Jahrespreis der Wochenzeitung „Die Zeit“, der Band brachte Fischels zudem den e.o.plauen-Förderpreis ein und wurde in mehrere Sprachen übersetzt, was beim Comicfestival im italienischen Treviso eine weitere Auszeichnung zur Folge hatte: den Preis für die beste internationale Autorin. Und das alles mit einem Comicdebüt!
Auch in diesem Blog ist „Outline“ gefeiert worden, und ein Leser sagte mir kürzlich, es sei doch verblüffend, dass nun beim selben Verlag eine ganz ähnliche Geschichte erscheine: „Die Kluft“. Diesen Comic hatte ich noch nicht gelesen, aber meine Neugier war natürlich geweckt. Und mein Informant hatte in gewisser Weise recht.
Außenseiter- und Ausreißergeschichte
Dazu muss man wissen, dass Fischels von einem Trio erzählt, einer jungen Frau und zwei jungen Männern, die kurz vor dem Abschluss ihrer gemeinsamen Schulzeit stehen und sich Gedanken darum machen, was aus ihnen wird – und auch, ob aus ihnen weiterhin gemeinsam etwas wird. Die Rettung von Schulfreundschaft und Teenagerliebe ins Erwachsenenleben: Das ist ein international virulentes Thema. Kein Wunder, dass Fischels damit auch in Italien überzeugt hat, und außerdem ist „Outline“ eine faszinierende Außenseitergeschichte. Kein Wunder aber auch, dass es noch andere Comicautoren gibt, die sich des populären Themas annehmen.

Einer von ihnen ist Adam de Souza, der Autor von „Die Kluft“, ein Kanadier, der seine Geschichte um ein Trio in gleicher Zusammensetzung und gleichem Alter an seinem Wohnort Vancouver ansiedelt. Dort stehen Olivia, Milo und Alvin kurz vor dem Schulabschluss, als ein anderer Mitschüler eine übergriffige Bemerkung gegenüber Olivia fallen lässt und sich dafür eine geballte Rechte einfängt, die sich gewaschen hat. Prügel im Schulgebäude sind nirgendwo gerne gesehen, also macht sich Olivia kurzerhand auf und davon. „Die Kluft“ ist eine Ausreißergeschichte.
Sehnsucht nach dem Kommuneleben
Geplant war dieser Ausbruch aber schon länger, und das Ziel ist eine Insel vor Vancouver (es gibt dort unzählige), auf der eine alternative Wohnkommune ansässig sein soll, deren Flugblatt Olivia daheim bei den Sachen ihrer Mutter gefunden hat. Das Ganze liegt also schon etwas zurück, und wie sich erweisen wird, ist die Gemeinschaft längst zerbrochen. Doch bevor Olivia und ihre beiden Freunde dort ankommen, dauert es ein bisschen.

Wir sind mit „Die Kluft“ (der Band heißt im Original übrigens nicht etwa „The Gap“, sondern „The Gulf“, die Meerenge) also in ähnlicher Konstellation, aber in ganz anderen Räumen als bei Michèle Fischels unterwegs. So gesehen hatte mein Informant auch wieder nicht recht. Einen Primat wird man eh nicht ausmachen können, denn beide Bücher kamen in ihren Originalausgaben 2024 heraus. Und wie gesagt: Das Thema ist universell. Und somit auch universell attraktiv.
Der Dritte im Bund als fünftes Rad am Wagen
In Souzas Comic geht es derber zu als in dem von Fischels. Olivia hat ihre erste Liebesbeziehung zu einem Mitschüler hinter sich und sich dadurch die üble Nachrede einiger Jungs zugezogen. Die Trios beider Comics stammen zwar ungefähr aus der gleichen sozialen Schicht, aber bei Souza steht das Bürgertum immer dicht vor dem Abgrund, was zur Verunsicherung seiner Kinder beiträgt. Der Ausbruch aus dem Schulalltag in die alternative Lebenswelt der Insel ist somit auch eine Flucht vor den sozialen Herausforderungen. So etwas spielt in „Outline“ keine Rolle.

Dafür ist die persönliche Komponente bei Fischels brisanter, denn da sind zwei der drei ein Paar – und der Dritte das fünfte Rad am Wagen. Bei Souza macht sich Milo zwar Hoffnungen, bei Olivia zu landen, aber sie denkt gar nicht daran, und der Dritte, Alvin, ist eh ein Sonderling, so dass er gar nicht in ein Konkurrenzdenken verfällt. Man könnte resümierend sagen: In „Die Kluft“ geht es abenteuerlicher zu, in „Outline“ psychologischer. Da die kanadische Westküstenregion nicht gerade Wildnis ist, hält sich das Abenteuer aber in Grenzen, während in einer deutschen Stadt durchaus psychologische Abgründe lauern können. Deshalb ist „Outline“ interessanter.
Männliches Harmoniebedürfnis will befriedigt sein
Aber „Die Kluft“ ist nicht uninteressant, denn da gibt es eine vierte Person, die auch auf die Insel kommt: Olivias Verflossener. Dessen Herumgeprahle mit ihrer Beziehung ist überhaupt die ganze Aufregung zu verdanken – und nun hätte er gerne seine Freundin. Man mag es einen aufgeklärten male gaze von Adam de Souza nennen oder schiere Romantik: Es gelingt ihm, am Schluss sind die beiden wieder ein Paar.

Und Olivia lebt in der doch eigentlich gescheiterten Kommune, die durch den Zuwachs wieder aufzublühen scheint. Viel Unglaubwürdigeres als dieses Happy End habe ich lange nicht gelesen. Aber wie Milos Hoffnungen enttäuscht werden und sich der eigenbrötlerische Alvin (den Souza zeichnet wie eine Cartoonfigur) als zentraler Katalysator erweist, das ist zumindest originell. Und glaubwürdig. Mit seiner zentralen Frauenfigur hat Souza dagegen reichlich daneben gelangt. Da war Olivia selbst weitaus schlagkräftiger.
Weitaus geschickter geht Souza grafisch zur Sache. Was er macht, ist in der Figurenzeichnung denkbar konventionell (mit der bezeichnenden Ausnahme Alvins), aber seine Bilder sind effektiv. Wie Fischels setzt er auf abgedeckte, blasse Töne, meist monochrom eingesetzt, bevor es dann sehr spät im Comic einen Moment der Besinnlichkeit gibt, in dem plötzlich bunte Farben in die Panels einziehen. Und man ist irritiert, dass Olivia da plötzlich dunkle Haare hat, während zuvor die Darstellung ganz anderes vermuten ließ. Aber dieser Kunstgriff ist wohlüberlegt: zeigt er doch, wie manipulierbar wir durch spezifische Darstellungen sind. Adam de Souza nimmt sich davon selbst als Autor gar nicht aus, und das ist dann wieder ein Element der Selbstreflexion, das „Die Kluft“ gegenüber „Outline“ voraus hat.
