
Und dann betritt David Khrikuli die Bühne, wartet kaum den Begrüßungsapplaus ab und legt mit einer äußerst musikalischen Ungeduld los. Als einziger Kandidat trägt er Smoking, die Schleife lugt unterm altmodischen Vatermörder hervor. Sein Anschlag klingt recht nach Ancien Régime. Die virtuosen, für Pianisten eigentlich so dankbaren Läufe spielt er fast ein wenig verächtlich weg, als seien sie unter seiner Würde, und nebenher produziert er auch noch falsche Töne. Allerdings mit so viel Geschmack, dass die schon wieder richtig klingen.
Wenn der 24-jährige Georgier Chopin spielt, hat man das Gefühl, seine Musik zum ersten Mal zu hören. Und das ausgerechnet hier! Khrikuli ist Finalist beim Internationalen Chopin-Wettbewerb – dem mit Abstand wichtigsten (und wohl monotonsten) Klavierwettbewerb der Welt. Drei Wochen lang steht in Warschau auf dem Spielplan einzig und allein: Chopin.
Seit 1927 wird so alle fünf Jahre nicht nur ein exzellenter Pianist ermittelt; vielmehr soll auch jedes Mal ein neues Kapitel in der Geschichte der Chopin-Interpretation aufgeschlagen werden. Maurizio Pollini, Martha Argerich oder Krystian Zimerman haben als Weltstars bahnbrechende Impulse für Chopin gesetzt. Auch als Zweit- oder Drittplatzierte kann man den Durchbruch schaffen, wie Mitsuko Uchida, und dass einem sogar als genialischer Verlierer die Musikwelt offensteht, hat vor über vierzig Jahren der Kroate Ivo Pogorelich bewiesen.
Die Faszination für den Wettbewerb ist riesig. In Polen finden landesweit Public Viewings der Konzerte statt, über 36 Millionen Mal wurde der Livestream des letzten Wettbewerbs 2021 aufgerufen. Die Tickets für die diesjährige Ausgabe waren bereits Monate im Voraus ausverkauft. Um trotzdem noch eine Karte zu ergattern, kampierten nicht wenige Menschen nächtelang vor der Warschauer Nationalphilharmonie.
642 Pianisten haben sich dieses Jahr beworben, von denen es nach einer strengen Vorauswahl und drei Runden elf ins Finale geschafft haben, darunter drei Chinesen, zwei Amerikaner und ein Pole. Die älteste Teilnehmerin (Shiori Kuwahara) war 30 Jahre alt, die jüngste (Tianyao Lyu) feierte in der letzten Nacht des Wettbewerbs ihren 17. Geburtstag.
Wie leidenschaftlich Frédéric Chopin als polnischer Nationalheiliger verehrt wird, merkt man auch außerhalb des Konzertsaals. Im Hotelfahrstuhl trällern einem seine Walzer entgegen, in Restaurants die Mazurken, sogar auf den Toiletten Warschaus wird man diskret-indiskret von Chopin begrüßt. Der örtliche Flughafen ist nach Chopin benannt, es gibt ein großes Chopin-Museum, eine Chopin-U-Bahn-Linie, drei Chopin-Konzertsäle sowie fünfzehn Chopin-Sitzbänke. Und in den Kinos läuft gerade das aufwendig produzierte Biopic Chopin, Chopin! Darin erklärt der Komponist dem französischen König Louis-Philippe ausführlich, wie stolz er auf seine polnische Heimat sei. Das mag den historischen Tatsachen entsprechen – der Stolz Polens auf Chopin aber wirkt fast noch größer. Bis heute.
Diese Verehrung lässt sich dadurch erklären, dass die Figur Chopins sowohl im reaktionären PiS-Lager als auch im liberalen Polen anschlussfähig ist. Einerseits kann man Chopin als patriotischen Nationalhelden feiern, der mit seiner Revolutionsetüde den Soundtrack zum polnischen Novemberaufstand 1830 komponierte; andererseits verankerte er durch sein Wirken in Frankreich die polnische Musik im westeuropäischen Kulturkanon. Es schlagen also immer zwei politische Herzen in Polens Brust. Doch sie schlagen beide für Chopin.