
„Als Salvador Dalí seinen surrealistischen Irrsinn bleiben ließ, haben ihn die Politiker dieses Landes übernommen“. Mit einiger Hingabe erzählt man sich in Beirut solche Schenkelklopfer. Das ist die Rettung in einer Stadt, in der einem vor allem das Lachen vergehen müsste. Dauernd. Aber Humor hilft über vieles, erst recht, wenn genau das zum Alltäglichen geworden ist, was anderswo auf der Welt den Katastrophenplan in Gang bringt.
In Beirut soll der Bub doch auf Heckenschützen achtgeben
Eher en passant wird der kleine Charles von seiner Mutter ermahnt, er möge nicht so spät heimkommen und auf Heckenschützen achtgeben. Allerdings dauert es auch nicht mehr lange und die Familie emigriert nach Paris. Wir schreiben das Jahr 1975. Gerade hat im Libanon der Bürgerkrieg begonnen, das ist die Zäsur im Leben des Comiczeichners Charles Berberian, der in seiner neuen Graphic Novel „Eine orientalische Erziehung“ auf die Zeit in Beirut und auf seine Familie blickt.
Die hat es schon durch ihre griechisch-armenisch-französisch-deutschen Wurzeln in sich: Berberian kam in Bagdad als Sohn einer griechischen Mutter – geboren in Jerusalem – und eines armenischen Vaters aus Beirut zur Welt. Je nach Anstellung hat man mal da, mal da gelebt, und das mehr oder weniger freiwillig, aber dabei erstaunlich flexibel. Umzüge waren normal, dass die Familie getrennt ist, auch.
Berberian erinnert sich an eine faszinierende Stadt am Meer
Doch Beirut und die sechs Jahre bei der Großmutter sind für Charles überaus prägend, und umso tiefer sitzt die Erinnerung an eine faszinierende Stadt am Meer, an Clubs und Badestrände, Kinos und moderne Bauten, man könnte auch sagen, an ein umwerfend multikulturelles Nebeneinander, das letztlich zwischen den Interessen anderer Nationen zerrieben wurde. Und damit sind nicht nur die Anrainer gemeint, sondern genauso die großen Player, respektive „ein paar Besoffene“, die das Land während des Ersten Weltkriegs „in aller Eile aufteilen“.

© Zeichnung: Charles Berberian/Reprodukt
von Zeichnung: Charles Berberian/Reprodukt
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Die alten Männer treffen sich jetzt im Starbucks – weil es ihre Cafés nicht mehr gibt
Berberian, der im Duo mit dem Autor Philippe Dupuy bekannt wurde und dann als Solist u. a. eine herrliche Graphic Novel über die französische Architektin Charlotte Perriand herausgebracht hat, taucht tief in dieses Beirut ein. Seit drei Jahrzehnten kehrt er regelmäßig zurück, trifft Menschen, die ihm vom Leben zwischen schnell hochgezogenen Hochhäusern berichten, und er sieht alte Männer, die im Starbucks zusammensitzen, weil es ihre früheren Cafés nicht mehr gibt.
Die Verwüstungen sind allgegenwärtig, gerade nach der Explosion 2020 im Hafen. Doch statt zu lamentieren, „bedeutet die Vergangenheit wenig“. Das betrifft genauso die Zukunft, es geht von Tag zu Tag, und jeder neue sei „ein Geschenk des Himmels und man muss so viel daraus machen wie möglich“. Am besten im Miteinander. Auch dafür plädiert Berberian, der seine Eindrücke in einen betörenden Stilmix aus Comiczeichnungen, farbintensiven Aquarellen und Fotografien aus den Familienalben überträgt. Kurioserweise will man sofort losfahren in dieses heillose Chaos einer real surrealen Stadt.
Charles Berberian: „Eine orientalische Erziehung“ (Reprodukt, 144, Seiten, 25 Euro)