Champions League: Ein Europa, eine Tabelle

In unserer Kolumne „Grünfläche
schreiben abwechselnd Oliver Fritsch, Christof Siemes, Stephan Reich und Anna Kemper über
die Fußballwelt und die Welt des Fußballs. Dieser
Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 43/2024.

Andere Jungs in meinem Alter waren vernarrt in Autos. Sie sammelten Matchbox-Modelle, schwärmten von pumpenden Kolben, später polierten sie ihre Radkappen. Ich hingegen bekam keinen Nervenkitzel, wenn die Reifen quietschten. Ich war verliebt in Fußballtabellen. 

Ob Bundesliga, Oberliga Hessen, Kreisklasse Wetzlar/Oberlahn – jeden Montag studierte ich in der Zeitung Punkteabstände und Torverhältnisse. Wer hat noch Meisterchancen? Wo endet das Mittelfeld, wo beginnt die Abstiegszone? Natürlich aktualisierte ich auch die Kicker-Stecktabelle aus Pappwappen.

Für manche war eine Tabelle eine kryptische Zahlenreihe. Für mich war sie ein Symbol der Klarheit und Unbestechlichkeit. Eine Tabelle ist Wahrheit. Jetzt ist dieses Gefühl, die Tabellenliebe, wieder da. Der neuen Champions League sei Dank. Die Gruppenphase, die die Vereine in acht Teile stückelte, ist abgeschafft. Nun sind alle 36 in einem einzigen großen Klassement. 

Ich kenne die Einwände. Noch mehr Spiele, noch mehr Kommerz, alles eine Vorstufe zur Superliga. Die gigantische Ungleichheit im europäischen Fußball solle durch das einheitliche Tabellenbild bloß übertüncht werden. In Wahrheit bewegten sich Real Madrid und Roter Stern Belgrad in verschiedenen Galaxien. Gerecht gehe es auch nicht zu. Tatsächlich spielt jetzt nicht mehr jeder gegen jeden, sondern irgendein Algorithmus legt heimlich fest, wer auf wen trifft. 

Ich jedoch, Schmetterlinge im Bauch, kann den Blick nicht mehr abwenden von meiner neuen Geliebten, der längsten Tabelle der Welt. Zeitungen müssen eine kleinere Schrift verwenden, um sie zu drucken. Auf dem Handy muss man lange scrollen, um ganz nach unten zu kommen. Man braucht drei Screenshots, um sie in Gänze abzubilden. Der Kicker müsste seine Stecktabelle ausklappbar machen. 

Es ist geil, weil alle dabei sind und weil ein Signal von ihr ausgeht: ein Europa, eine Tabelle. Vorne stehen Vereine aus England, es folgen welche aus Frankreich, Portugal und Spanien, später die aus Schottland, Belgien, der Ukraine, am Ende die aus der Schweiz, Österreich, und die Deutschen wurschteln auch mit. Wo liegt noch mal Brest?

Vielleicht ist mein Himmel voller Geigen, ähm Tabellen. Aber die Kritiker sollten genauer hinschauen. Die Kleinen kommen sehr wohl zum Zug. Dinamo Zagreb ging zwar vor Wochen 2:9 in München unter, steht aber inzwischen einen Platz vor den Bayern. Für das Schlusslicht aus Bratislava gibt es Trost: Nur ein Sieg und schon klettert ihr zehn Plätze!  

Überhaupt, eine Tabelle, die den FC Bayern auf Rang 23 führt, muss man die nicht einfach gernhaben? Und klingt das nicht süß, wenn man einen Leipzig-Fan fragt: Wievielter seid ihr? Und er antworten muss: Einunddreißigster. Die Tabelle lügt nie. Sie flunkert höchstens. Derzeit steht Borussia Dortmund vor Real Madrid.

Früher kaufte mir mein Vater alle Wimpel der Bundesligavereine und montierte eine Holzleiste mit 18 Nägeln, schräg abfallend, um die sportliche Hierarchie optisch einzufangen, an der Wand. Schlug also Arminia Bielefeld den VfL Bochum, vollzog ein Zwölfjähriger aus Hessen heißen Herzens diesen Wechsel in seinem Kinderzimmer nach.

Vielleicht wäre das auch heute wieder eine gute Idee. Vielleicht sollte ich meinem Neffen zu Weihnachten eine 36-teilige Riesentabelle basteln.