
„Es ist ein krasses Gefühl, ein Gewehr in der Hand zu haben“: Ella bei ihrer Abschlussübung beim Heimatschutz
Nach dem ersten Monat bei der Bundeswehr lernt Ella schießen. Die Abläufe haben sie vorher geübt: Waffe zusammensetzen, nachladen, Magazine wechseln. Jetzt geht es darum, zu treffen. Schießt du da auf Menschen, hat Ellas beste Freundin sie gefragt. Ella sagt, sie blende das aus. Sie ist selbst erstaunt darüber. Aber: „Wir sollen ja nicht so Mitgefühl haben. Uns wird nicht gesagt: ‚Das ist ein Mensch, den ihr tötet, das kann auch ein Familienvater sein.‘ Uns wird erklärt, wie wir einen Menschen am besten umpfeffern.“
Ella sitzt in einem Café in Berlin-Prenzlauer Berg und malt mit Kugelschreiber eine Zielscheibe, die am Schießstand in der Ausbildung aus Pappe ist. Auf ein großes Rechteck zeichnet sie ein Quadrat als Kopf, und weil bei der Bundeswehr das NATO-Alphabet gilt, schreibt sie ein A hinein, Alfa-Zone. In das große Rechteck kommen ein kleineres Rechteck B – „das ist der Rumpf“, die Bravo-Zone – und ein flaches Rechteck C, die Charlie-Zone, für „alles, was unterhalb der Schutzweste ist“. Ella erklärt: Aus größerer Entfernung, mit dem Gewehr, wird auf die Bravo- oder die Charlie-Zone gezielt, aus kurzer Distanz, mit der Pistole, auf Kopf und Rumpf. Und, wie ist das so? Macht Schießen Spaß? Ella nickt. „Es ist ein krasses Gefühl, ein Gewehr in der Hand zu haben“, sagt sie. Und: „Es macht halt Spaß, wenn man trifft.“ Sie lächelt.
Wenn jemand von ihren Freunden sagt, er hätte nie gedacht, dass Ella zur Bundeswehr geht, ausgerechnet sie, die Tochter aus grün-alternativem Elternhaus, denkt Ella: „Was bist du für ein Laserbrain? Ich hätte das auch nicht gedacht.“ Sie ist 20 Jahre alt und kannte ihr Leben lang keinen Soldaten persönlich. Das Milieu, aus dem sie kommt, und das Militär sind sich ungefähr so lieb wie Katz und Hund. Ihr Vater, ein Energieexperte, hat seinerzeit Zivildienst gemacht, die Mutter ist Ingenieurin. Prenzlauer Berg, man kauft im Bioladen. Ella hat zwei jüngere Geschwister. Wenn für Klimaschutz oder gegen die AfD demonstriert wird, geht die Familie gemeinsam auf die Straße.
Dann aber überfällt Putin die Ukraine, und Ella macht nach dem Abitur einen Freiwilligendienst in Riga. Ein Jahr lang lebt sie keine 300 Kilometer von der lettisch-russischen Grenze entfernt, die Bedrohung ist unmittelbar. Spätestens seitdem ist ihr klar: Verteidigung ist wichtig. Eigentlich will Ella Sozialwissenschaften studieren, aber vorher hat sie noch Lust auf etwas Aufregendes, das aus dem Raster fällt. Also bewirbt sie sich über das Programm „Dein Jahr für Deutschland“ als freiwillige Wehrdienstleistende beim Heimatschutz. Sie sagt: „In Lettland habe ich gemerkt, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist und dass man was dafür tun muss.“ Der Dienst sei ihr Beitrag zur Abschreckung Russlands. Die Eltern sind stolz auf sie. Und Ella sagt zu, der F.A.S. von ihren Erfahrungen zu berichten. Sie weiß ja selbst nicht, was sie erwartet. Kurz bevor es losgeht, sagt sie: „Ich bin richtig aufgeregt.“ Zur Vorbereitung war sie zwei Monate lang fünf Tage die Woche im Fitnessstudio.
„Ich hab noch nie einen Laden erlebt, der eine so krasse Hierarchie hat“, sagt Ella. Aber im Fall der Fälle braucht es Handlungsfähigkeit.
Eine schwarze Anzughose, ein Rollkragenpullover in Dunkelgrün und Kreolen, die viel kleiner sind als die Silberreifen, die sie in Berlin im Ohr trägt: Ella hat lange überlegt, was sie an ihrem ersten Tag bei der Bundeswehr anzieht. Zu den Treffen mit der F.A.S. wird sie schon bald meist ungeschminkt kommen. Und es wird eine Weile dauern, bis sie begreift, dass Heimatschutz nicht Katastrophenschutz ist, Sandsäcke schleppen bei Überschwemmungen oder so. „Niemand im Heimatschutz tötet irgendwelche Menschen“, denkt sie noch in den ersten Wochen. Von wegen. Im Ernstfall ist es ihre Aufgabe, verteidigungskritische Infrastruktur zu schützen. Ella wird zu einer Soldatin ausgebildet, die im Inland kämpft.
Während Ella nun ihre Wochen in der Kaserne verbringt, drei Monate Allgemeine Grundausbildung in Hannover, vier Monate Spezialausbildung beim Heimatschutz in Münster, überrollt die Diskussion über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht das Freiwilligenprogramm. Im Spätsommer wird die neue Basisausbildung starten. Die Gesellschaft begreift allmählich: Deutschland braucht mehr Soldaten. Die Frage, wie die Bundeswehr junge Menschen für sich gewinnt, ist drängender denn je. Ellas Erfahrung ist ein Beispiel dafür, was sie bei der Bundeswehr erwartet.
Tag 5
„Ey, kleiner Tipp: Mach Kaugummi raus und Kopfhörer weg“: In Hannover begrüßen zwei erfahrene Kameraden Ella mit einer Warnung. Ein Rekrut, der die Hände in den Hosentaschen versenkt, wird von den Vorgesetzten angebrüllt. „Der Ton ist schroff“, stellt Ella fest. Es ist der fünfte von 212 Tagen Dienstzeit, das zweite von 13 Treffen mit der F.A.S. Ella erzählt, wie sie sich vorstellen will, „Schützin“, sagt sie und wird sofort korrigiert: „Schütze.“ Sie lernt: Dienstgrade werden nicht gegendert. Und beim Antreten sortiert man sich nach Größe. Auch wenn der Zug, also die Gruppe, sich in Bewegung setzt, gehen die Größten vorn. Ella findet das ungerecht: „Das führt dazu, dass sie auch als Erste Essen bekommen und am längsten zum Essen Zeit haben. Gerecht wäre, wenn man sagen würde, jetzt sind auch mal die Kleinen zuerst dran.“ Nudeln mit Gemüse, Brot mit Aufstrich, morgens Joghurt, Müsli, Brot. Das Essen ist okay, findet Ella. Von 47 Rekruten sind elf Frauen: „Das ist ein Anteil, mit dem ich arbeiten kann.“ Auf Ellas Stube sind sie zu dritt. Mit der einen Kameradin wird sie sich anfreunden.
Mittagspause in der Kaserne: Das Essen findet Ella grundsätzlich okay.
Wenn der Zugführer am Nachmittag „In den Dienstschluss wegtreten“ sagt, antwortet der nach Größe sortierte Zug: „Deutschland.“ Jeder ruft, so laut er kann. Ella ist das unangenehm: zu nationalistisch. „Ich will ja nicht Deutschland verteidigen“, sagt sie. „Ich verteidige die Werte, für die Deutschland heute steht.“ Die freiheitlich-demokratische Grundordnung, das Grundgesetz: So ist es ihnen auch im Unterricht Politische Bildung erklärt worden. „Ich fände gut, wenn wir alle ,Grundgesetz‘ rufen würden“, sagt Ella. Bei dem täglichen Abschiedsritual haben die Vorgesetzten freie Hand. Ella erzählt, in einem früheren Ausbildungslehrgang habe der Zugführer seine Rekruten die Ankündigung des Feierabends mit „schade“ quittieren lassen. „Das ist superlustig“, sagt sie. „Ich würde auch am liebsten ,schade‘ rufen.“
Als sie Marschieren lernen und den richtigen Abstand zum Vordermann mit der Länge des linken Arms abmessen sollen, streckt einer der Kameraden den rechten Arm aus; ein Ausbilder schreitet ein: „Warum nimmst du die rechte Hand? Ich hab linke Hand gesagt! Muss ich mir Sorgen machen?“ Ella: „Das fand ich sehr cool.“
Tag 6, Textnachricht
„Heute ist Ankleidung gewesen. Alle das erste Mal zusammen in Uniform. Ich hab den Hauptfeldwebel aus Versehen Oberfeldwebel genannt. Fand er überhaupt nicht lustig.“
Tag 7, Textnachricht
„Sporttest ist gut gelaufen. Mein größter Vorsatz ist, dass, wenn ich in forschem Ton zurechtgewiesen werde, meine Stimme nicht mehr leiser wird, sondern dass ich immer noch laut und deutlich spreche.“
Tag 8, Textnachricht
„Heute haben zwei Frauen widerrufen (abgebrochen).“
Tag 12
Die erste volle Woche bei der Bundeswehr fühlt sich für Ella an wie vier Monate. Vollgestopfte Tage, kurze Nächte. Wenigstens schläft sie gut. Ihr Highlight: 100 Meter Schwimmen in Uniform, vier Bahnen. Ella kommt als Zweite von fünf Rekruten ins Ziel, auf der letzten Bahn überholt sie drei Männer. „Das war ein cooles Gefühl.“
Am Freitag muss sie eine Stunde nachsitzen, weil sie ihre Schuhe nicht geputzt hat. Zur Strafe soll sie aufschreiben, warum es wichtig ist, Ordnung zu halten und auf Befehle zu hören. Ella sagt: „Ich hab noch nie einen Laden erlebt, der eine so krasse Hierarchie hat wie die Bundeswehr. Das ist schon sehr gewöhnungsbedürftig.“ Aber die Notwendigkeit sieht sie ein: Im Fall der Fälle braucht es Handlungsfähigkeit. Ein Kollektiv, das Entscheidungen ausdiskutiert und am Ende abstimmt – undenkbar. „Ich muss mir das immer wieder klarmachen“, sagt Ella: „Warum soll ich sonst auf irgendwelche Männer hören, wie ich meine Schuhe zu putzen habe?“
Für die Besessenheit mit Ordnung gilt dasselbe. Sind die Betten richtig gemacht, der Müll weggebracht, ist gelüftet und durchgefegt? Bei der morgendlichen Stubenkontrolle darf nicht einmal die Kosmetiktasche auf dem Tisch herumstehen. Es gibt klare Anweisungen, wie der Spind eingeräumt wird und was in welche Hosentasche gehört. „Das ist wichtig, um organisatorische Skills zu trainieren“, sagt Ella. Wenn alles seinen festen Platz hat, muss niemand etwas suchen. Wer seine Schuhe exakt zu binden weiß, wird auch die Waffe zuverlässig handhaben. Zumindest in der Theorie. Ella beschreibt sich selbst als „verpeilt“. Manchmal vergisst sie ihre Mütze, manchmal das Namensschild, das mit der Klettrückseite auf die Feldbluse oder die Jacke geheftet werden muss. Noch am Ende der Ausbildungszeit wird ihr T-Shirt-Stapel weniger akkurat als der ihrer Stubennachbarin sein. Zum Glück hilft man einander aus.
Der Unterricht, zum Beispiel Politische Bildung, gefällt ihr. Zwar hat ausgerechnet der Ausbilder, der vor Rassismus warnt, zu Vorführzwecken das N-Wort benutzt. Ella ist empört: „Das geht gar nicht.“ Dafür ist sie von der Gleichstellungsbeauftragten beeindruckt. Die Frau hat klargemacht: Wer jemanden anfasst, ohne dass der andere es will, ist raus. Gleiches gilt, wenn auch nur ein Meme auf dem Handy gefunden wird, das den Holocaust leugnet. „Das hat mich wieder beruhigt.“
Sie sagt: „Ich würde mir wünschen, dass die Leute sich nicht abschrecken lassen von ein paar Vollhonks. Vielleicht sind da Leute, die nicht deine Meinung teilen. Aber die meisten sind trotzdem großartig. Und es ist wichtig, dass da Leute mit dem richtigen Mindset, mit demokratischen Werten hingehen. Es braucht viele gute Leute.“
Ihren ersten Zwanzigkilometermarsch hat sie gut bewältigt. Eine Siebzehnjährige hingegen hat schlapp gemacht und noch unterwegs die Ausbildung geschmissen. Der Vorgesetzte habe verbal auf sie „eingedroschen“, erzählt Ella: „Ey, warum läufst du nicht schneller?“ Ella findet das hart. So könne man doch mit Leuten nicht umgehen: „Was macht das mit der und ihrem Selbstwertgefühl, wenn so ein älterer Mann auf sie einbrüllt?“ Die erfahreneren Kameradinnen haben ihr erklärt, gerade am Anfang werde absichtlich gesiebt. Bei der Bundeswehr gehe es schließlich nicht um Empathie und Bedürfnisse. „Das ist so ein Unterschied zu dem, was wir im woken Prenzlauer Berg erwarten: Wir müssen alle inkludieren, auf die unterschiedlichen Geschlechter Rücksicht nehmen, safe space für alle. Bei der Bundeswehr gilt: Wenn du das hier nicht abkannst – da ist die Tür.“ Oder wie die Ausbilder immer sagen: Der Zug ist nur so stark wie sein schwächstes Glied.
An Freitag bleibt Ella mit einer kleinen Gruppe noch in der Kaserne. „Ich mag dazugehören“, sagt Ella. Sie haben getrunken, auf Stube, und geredet. „Hat sich gelohnt“, sagt Ella.
Tag 26
Beim Gelöbnis, zu dem ihre Mutter und ihre jüngere Schwester angereist sind, singt Ella zum ersten Mal in ihrem Leben die Nationalhymne. Die Fahne, das Musikkorps, das ganze große Tamtam mit Angehörigen – Ella hätte gedacht, es würde sie stärker berühren. Aber der Text der Hymne geht ihr ans Herz. Einigkeit und Recht und Freiheit: „Das sind ja wirklich die Werte, die unser Land vertritt.“ Während sie singt, versucht sie, Dankbarkeit zu empfinden dafür, in Deutschland geboren zu sein. Ihr Vater sagt immer, bei der Geburtenlotterie hätten sie einen Sechser im Lotto gewonnen.
Dass ihre Mutter und ihre Schwester da sind, irritiert sie. Plötzlich vermischen sich ihre zivile und ihre militärische Welt. „Ich wusste gar nicht, wie ich mich da verhalten soll“, sagt Ella. Ihr wird bewusst, wie sehr die Uniform Individualität tilgt. Im ersten Moment gefiel ihr das. Sich keine Gedanken machen, ob ihr Style auffällt. Aussehen wie alle. Die dicken schwarzen Stiefel. Das Militärmuster. Inzwischen ist das Aufregende einer Last gewichen. Immer darauf achten, dass die Haare nicht aus der Mütze ragen, sondern zum Zopf gebunden, zurückgegelt und mit Haarnadeln festgesteckt sind. Das mache auch die Haare kaputt, sagt Ella. Und nie das Namensschild vergessen! „Man vertritt eine Institution“, sagt Ella.
Als sie das erste Mal in Uniform Bahn fährt, weil sie dann kein Ticket braucht, zieht sie sich vor der Ankunft in Berlin auf der ICE-Toilette um. Durch den Prenzlauer Berg nach Hause in Flecktarn? Bloß nicht.
Tag 39, Monat 2
Das Frauenthema beschäftigt sie. Ella hat da lange mit ihrer besten Freundin drüber geredet. „Es ist ja klar, wir sind bei der Bundeswehr, da gibt es Sexismus“, sagt Ella. Das Erstaunliche: Es stört sie kaum. Schließlich macht niemand anzügliche Bemerkungen, niemand gibt ihr das Gefühl, unerwünscht zu sein. „Ich werde gut behandelt“, sagt Ella. Aber das Stereotyp des starken Mannes prägt den Alltag, bis in die Sprache hinein: Ein Soldat muss stark, tapfer und mutig sein. „Das nennen sie männlich“, sagt Ella. „Aber das können wir Frauen auch sein.“ Bei der Stubenkontrolle meldet man schließlich auch: „Stube mit drei Mann belegt, zwei Mann anwesend“ – ganz gleich, ob es sich um ein Frauen- oder ein Männerzimmer handelt.
Von Anfang an hat Ella Kameradinnen bewundert, die selbstbewusster auftreten als sie. Wenn ihre eigene Stimme dünn wird, ärgert sie sich. Wenn Kameradinnen weinen oder herumzicken, denkt sie: „Ey, ihr repräsentiert hier alle Frauen. Reißt euch doch zusammen, um uns ein bisschen Ehre zu machen.“ Und sie schämt sich, wenn ihr Geschlecht es vergeigt. „Man muss als Frau noch mehr beweisen, dass man es draufhat. Dass man die Eier hat.“
Die Übungsmunition wird nach der Übung eingesammelt. Und wehe, eine Patrone fehlt!
Im Sport fällt das besonders auf. Ella ist gut in Ausdauer. Bei der Kraft hapert es. Als Klimmzüge dran sind – rund 40 Männer und Frauen sollen insgesamt 1900 Stück schaffen, mit Pausen und Hilfsmitteln – ziehen die Männer durch. Keine der Frauen schafft auch nur einen einzigen echten Klimmzug. „Das war mir sehr, sehr peinlich“, sagt Ella. Nicht dass jemand geschimpft hätte. Aber angefeuert wurden nur die Jungs. „Es schwingt immer so mit, dass Frauen tendenziell weniger Leistung erbringen, und irgendwie nervt mich das so, weil es stimmt. Wir beweisen denen nicht das Gegenteil.“ Selbst wenn sie Kameradinnen nicht leiden kann, wünscht sie ihnen Erfolg. Eine für alle. Alle für eine.
Die angebliche Härte späterer Ausbildungsetappen ist ein beliebtes Kasernenthema. Einer der Ausbilder mutmaßt, am Ende seien vermutlich nur noch drei Frauen dabei. Eine davon: Ella. Nicht nett, findet Ella, den anderen gegenüber. Ihr gibt es Auftrieb. „An mich wird geglaubt.“
Keine Stunde nach dem Treffen im Café schickt Ella eine Sprachnachricht: „Was ich noch erzählen wollte: dass ich zum ersten Mal diese Dankbarkeit verspürt habe, wie toll es ist, dass ich dafür bezahlt werde, Sport zu machen, dass ich dafür bezahlt werde, dass ich diese Ausbildung mit so vielen anderen Leuten mache und dass es superlustig ist, manchmal.“
Sieben Monate lang verdient Ella rund 1800 Euro netto.
Tag 53, Monat 2
Was heißt superlustig? Ella erzählt drei Anekdoten:
Kürzlich sei ein Kamerad mitten in der Nacht aufgewacht, habe sich kerzengerade hingesetzt im Bett und laut geschrien: „Um drei Uhr antreten!“ Alle seien aufgewacht, nur der gestresste Schlafredner habe weitergeschlafen.
Einmal nimmt Ella nachts zum Klo den falschen Schlüssel mit und kommt anschließend nicht in ihr Zimmer, die Stubennachbarin hat einen tiefen Schlaf. Ein Kamerad aus dem Nachbarraum hört sie und bietet ihr ein freies Bett bei den Männern an, wo Ella seelenruhig bis zum nächsten Morgen pennt: „Alle haben sich gewundert.“
Sanitätsdienst. Sie üben im Freien, wie man sich gegenseitig verarztet. Kurz vor Dienstschluss fällt Ella auf, dass der Inhalt ihrer linken Beintasche fehlt. Zehn Minuten lang krabbelt der ganze Zug über die Wiese und sucht ihre Taschentücher, ihr Portemonnaie, ein Leuchtband, ein Halstuch, Verbandsmaterial. Dann stellt Ella fest: „Sorry, Leute, der Inhalt ist in meiner Jackentasche.“ Ihren Ruf als die Verpeilte hat sie da längst weg. Manchmal ist ihr das unangenehm, sie fürchtet, dass man sie deshalb für inkompetent hält. Später wird sie mit ihrer besten Freundin überlegen, ob sie damit ihren Weg gefunden hat, um Individualität zu zeigen.
Tag 67, Monat 3
Der Gefechtsdienst ist überstanden. Drei Tage und Nächte im Wald. Ella hat gelernt, wie man sich im Gelände bewegt. Wie man den Raum sichert. Wie man eine Stellung baut, also eine Art Sichtschutz oder Unterstand, aus der heraus man sich verteidigen kann. Sie weiß jetzt, dass es unterschiedliche Arten gibt, Feuer zu machen. Grubenfeuer zum Beispiel buddelt man in den Boden, um nicht entdeckt zu werden. Sie hat sich Zweige an den Helm gesteckt und ihr Gesicht grün-schwarz bemalt: mehr ein Eincremen als ein Schminken, sagt sie. „Es war schon so Outdoor-Urlaub, nur dass man nicht Pause machen durfte, wenn man wollte“, sagt Ella. Ein bisschen wie Klassenfahrt.
Ella postiert Zuckertütchen auf dem Café-Tisch, zwei versetzte Linien, um klarzumachen, wie eine Schützenreihe funktioniert. „Damit nicht alle auf einem Haufen sind, damit man nicht einmal reinschießen kann, und alle sind tot.“ Und ja, sie hat auch jemanden erschossen während der Übung. Sie zuckt mit den Schultern. Groß Eindruck auf sie gemacht hat das nicht. „Wenn man da so auf dem Boden rumkriecht, fühlt man sich ein bisschen lächerlich“, sagt sie. Manchmal kann sie sich das Lachen nicht verkneifen bei so viel Ernst.
Gut, dass ihr Zugführer, ein Hauptmann, gelegentlich Ansagen macht. Und zwar ungefähr so: Die verteidigungspolitische Lage hat sich zugespitzt, auf Deutschlands stärksten Bündnispartner Amerika ist nicht mehr Verlass, extreme Parteien sitzen im Bundestag. Es ist nicht wahrscheinlich, dass es zu einem Krieg kommt. Aber seien Sie sich bitte bewusst, dass Sie im Ernstfall dazu beitragen können, unsere freiheitliche demokratische Grundordnung zu verteidigen. „Ich finde das ziemlich toll“, sagt Ella. Man vergesse sonst, wofür man bei der Bundeswehr sei. Und mit der demokratischen Grundordnung ist es ihr wirklich ernst. Gerade erst war Ella auf einer Demo zum Internationalen Frauentag und hat darüber nachgedacht, wie kostbar es ist, sich politisch frei äußern und einbringen zu dürfen. Und dass man sich dafür stark machen muss. Laut sein. Die Demokratie bleibt nur so lange erhalten, wie Menschen sie wichtig nehmen, sagt Ella: „Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Leute aus meiner Bubble entscheiden würden, zur Bundeswehr zu gehen.“
Was aber, wenn Europa tatsächlich angegriffen würde? Würden dann Reservisten wie sie, die nur die Grundausbildung gemacht haben, an die Front geschickt? Ella klingt besorgt: „Die wollen ja nicht ihre besten Leute da vorne hinstellen, sondern uns unterste Hunde.“
Gewehre und Helme sind echt, Blut und Handgranaten nicht.
Den Willigen allerdings macht die Bundeswehr es schwer, stellt Ella fest. Immer wieder wird sie erzählen, dass motivierte, gute Leute sich gegen die geplante Karriere bei der Bundeswehr entscheiden, obwohl sie wirklich dafür brennen. Mal werden Wünsche nicht berücksichtigt, mal torpedieren fragwürdige Fristen den persönlichen Zeitplan. Oft spielen schlechte Organisation und lausige Kommunikation eine Rolle. „Es gibt ganz viele Sachen, wo die Bundeswehr es einfach verkackt. Da finde ich es Quatsch, über eine Wehrpflicht zu reden“, sagt Ella. „Sollen die erst mal diese Leute halten.“
Sie kann noch immer keinen einzigen Klimmzug. Aber „jetzt kommt das Coolste“, sagt Ella: Zum Gefechtsdienst mussten sie marschieren, jeden Tag ungefähr elf Kilometer hin und wieder elf Kilometer zurück. Mit Rucksack, 25 Kilo. Wenn jemand schlapp macht, übernehmen zwei Kameraden den Rucksack. Oder der Erschöpfte wird gezogen, was heißt, dass er sich am Rucksack eines Kameraden festhält oder unter dem Arm gegriffen mitgeschleift wird. Dieses Mal hat Ella eine Kameradin die ganze Strecke gezogen, ohne sich ablösen zu lassen. Auf dem Rückweg wieder. Sie hofft, dass der Vorgesetzte anderen von ihrer Heldentat erzählt. „Ehre verteidigt“, sagt Ella.
Tag 79, Monat 3
Ihre beiden großen Koffer und der Kampfrucksack stehen jetzt in ihrem Kinderzimmer, die Allgemeine Grundausbildung ist zu Ende. Drei Tage Biwak, also die letzte Ausbildungsetappe, Übungen im Wald. Ella zeigt Handyfotos: Zwischen dünnen Kiefernstämmen liegen Kameraden in Flecktarn auf trockenem Laub, das Gewehr im Anschlag. Ein Bild mit Gasmasken, bei der Bundeswehr muss man ABC-Masken sagen, Weltkriegsästhetik. Eine Horde posierender Kämpfer mit Waffen, wie die Drohgebärde einer Miliz wo auch immer in der Welt.
Die Tarnschminke macht Pickel. Während des Biwaks hatte Ella ihre Periode. Zum Glück gab es Dixi-Klos.
„Ich war noch nie körperlich so leistungsfähig wie jetzt gerade“, bilanziert Ella. Drei Monate und kein einziges Mal krank, kein einziges Mal verletzt. Ihre Belastbarkeit, das Erfolgserlebnis, sich selbst und den anderen etwas zu beweisen – für Ella ist das eine neue, äußerst befriedigende Erfahrung. Hatte sie in der Anfangszeit im Café noch darauf geachtet, dass an den Nachbartischen niemand darauf aufmerksam wird, was sie erzählt, ist ihr das inzwischen egal. Sie spricht von Kameraden, egal, ob sie Frauen oder Männer meint.
Für den Zugabend, die Abschlussfeier, stellen sie nach dem Lasertagspielen ihre Tische im Kasernenflur zusammen und bestellen Pizza. Die Ausbilder sind mittenmang. „Ich finde die voll faszinierend, die Ausbilder“, sagt sie. Harte Typen wie aus dem Soldatenlehrbuch, die in Afghanistan ihr Leben riskiert haben und ihre Untergebenen anbrüllen. Und dann redet man plötzlich beim Bier von Mensch zu Mensch. Noch Monate später ist Ella tief beeindruckt.
Einer der Vorgesetzten wendet sich zum Abschied an die weiblichen Rekruten: Beim Sport sollten sie ihre Leistungen nicht nur an den Vorgaben für Frauen messen, sondern auch in die Tabelle für Männer schauen. Das Ziel müsse es sein, gleiche Leistungen zu bringen. Ella gefällt das.
Sie klingt wehmütig, wenn sie sagt: „Ich hab da richtig tolle Leute kennengelernt.“
Von elf Frauen haben es sieben geschafft.
Tag 93, Monat 4
Die Basics sind beim Heimatschutz in Münster auch nicht anders als in der Allgemeinen Grundausbildung in Hannover: früh aufstehen, Stubenkontrolle, die Essenszeiten. Trotzdem schlägt Ella nach der ersten Woche die Hände vors Gesicht und sagt: „Es war so schrecklich.“ Sie weiß selbst nicht: Liegt es an der Umstellung, vermisst sie ihre vertraute Clique? Oder geht es um das, was sie „toxische Männlichkeit“ nennt?
Teile der Übungsmunition waren im Gras verschollen, der ganze Zug sollte suchen. Ella erzählt: „Ist so ein Hauptgefreiter gekommen: ,So, ihr sucht jetzt so lange, bis ihr die Mumpel habt! Ihr habt jetzt eine Minute Zeit. Sonst macht ihr zehn Liegestütze!‘ Der hat die ganze Zeit rumgeschrien. Ich weiß gar nicht, wie ich es in Worte fassen soll. Das war einer der schlimmsten Momente in der Bundeswehr bisher. Und dann hat er auch noch gesagt: ,Ja, richtig runter! Seid ihr kleine Mädchen oder was?‘“
Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass nur noch zwei Frauen dabei sind. „Ich will nicht jammern“, sagt sie, „ich werde nicht anders behandelt.“ Aber egal, was Ella tut – sie hat das Gefühl, sie tue es „als Frau“. Ganz gleich, ob sie im Selbstverteidigungstraining boxt oder im Gruppengespräch den Mund aufmacht – sie denkt darüber nach, was für ein Bild sie abgibt.
Und dann fragt sie sich auch: Mit welcher Berechtigung ist sie bei der Bundeswehr – wenn es sowieso die meisten Typen besser können als sie? „Im Gefecht, bei einem Nahkampf würden mich die meisten meiner Kameraden umlegen. Ich würde auch nicht gern mit mir an der Seite kämpfen.“
Abends gucken sie jetzt gemeinsam Tagesschau.
Tag 97, Monat 4, Sprachnachricht
„Wenn wir Trockenübungen an der Waffe machen, nehme ich das nur so ernst, dass ich die Übung halbwegs gut hinkriege und vor dem Ausbilder und den Kameraden nicht als Trottel dastehe. Dann gibt es Momente, wo mir einfällt: Du machst das nicht, um cool rüberzukommen, sondern um in einer Kriegssituation nicht zu sterben. Dann bekomme ich leicht Panik.“
„Die macht sich gut“, sagt der Hauptmann über Ella. „Wir würden sie behalten.“
Tag 101, Monat 4, Sprachnachricht
Viele von Ellas Freunden haben bei der Bundestagswahl die Partei Die Linke gewählt. Jetzt beschäftigt sie, was das für sie bedeutet, weil die Linke gegen Aufrüstung ist und weniger Verteidigungsausgaben und Abschreckung will. Gönnen ihre Freunde ihr keine modernere Ausrüstung? Machen sie mit ihrer Haltung einen Krieg wahrscheinlicher? Leidet dadurch ihre Chance zu überleben? „Deren Wahlentscheidung hat ja voll viele Konsequenzen für mich“, sagt Ella.
Tag 103, Monat 4, Textnachricht
Einer ihrer Kameraden sagt zu ihr: „Du bist eine von uns.“ Ella freut sich.
„Vielleicht sind da Leute, die nicht deine Meinung teilen. Aber die meisten sind trotzdem großartig.“
Tag 119, Monat 4, Sprachnachricht
„Die Tage jetzt waren wirklich komplett crazy“: Ellas Stimme überschlägt sich fast. „Ich habe noch nie so das Militärische gefühlt.“ Drei Tage waren sie im Wald, haben Gefechtsszenarien nachgestellt und Taktiken geübt. Die Waldkampfformation zum Beispiel, mit einem Schützenrudel vorn und zwei Schützenreihen an den Flanken sowie einem Suchtrupp, dem sogenannten Auge. „Man wird beschossen, alle gehen in Stellung, man wird breit. Und dann, auf den Befehl ,Hammer‘, weicht der Sturmtrupp aus und macht so einen Haken und stürmt aus der Flanke in den Feind, während das Deckungselement Deckungsfeuer gibt. Man muss so viel mitdenken, man muss die ganze Zeit Verbindung halten, man muss gucken, wo platziere ich mich jetzt am besten, hinter welchem Baum, um genug Deckung zu haben, um genug wirken zu können. Man ist wirklich die ganze Zeit auf Sendung. Es gab einen Moment, ein Kamerad war verwundet, und ich bin zu dem verwundeten Kameraden gegangen, anstatt Deckungsfeuer zu geben, also zu schießen. Und dann packt mich ein Feldwebel von hinten am Rucksack, hebt mich hoch und schreit mich an, warum ich denn jetzt diesem Kameraden helfe. Man denkt, man müsste das persönlich nehmen, da macht jemand einen richtig zur Schnecke. Ich bin sensibel, was so was angeht, wenn einen jemand anschreit, das geht mir schon nah. Aber in so ’nem stressigen Gefechtsmoment nimmt man nichts persönlich. Das war komplett verrückt.“
Abschlussübung, die Lage: Der Feind ist in Bundeswehrgelände eingedrungen, die Soldaten müssen ihr eigenes Stellungssystem zurückerobern.
Tag 146, Monat 5
Weil Ella mit Fieber aufgewacht ist, muss sie im Sportanzug antreten, der wegen seiner Farbe zumindest in ihrer Kaserne „blaue Rüstung“ genannt wird. „Man schämt sich so“, sagt sie: „Alle sehen, du bist krank.“ Ob da Absicht hintersteckt, um zu verhindern, dass Leute leichtfertig blaumachen, fragt sie sich. Oder ist es praktischer, weil man eh anschließend zum Sanitätsdienst muss?
Jedenfalls kann Ella im Dienst telefonieren. Sie bedauert, dass sie zum Tag der offenen Tür weder Familie noch Freunde eingeladen hatte. „Ich hab richtig viele Frauen gesehen mit hohem Dienstgrad“, sagt sie. Und einen Panzer, „so in real life“. Die Begeisterung ist ihr anzumerken. Die Nachwuchs-Heimatschützer führen vor, wie sie an einem Munitionsumschlagplatz ein Fahrzeug kontrollieren. Und sie sind mit ungeladenen Pistolen in der Menge unterwegs. „Man fühlt sich so mächtig“, sagt Ella. „Wie in einem Film.“
„Wenn man so auf dem Boden rumkriecht, fühlt man sich ein bisschen lächerlich“: Ella im Schützengraben auf dem Übungsgelände bei Münster.
Ortshäuserkampf: Falls sich Feinde innerhalb eines Hauses einrichten, blasen die Heimatschützer zum Sturm. Ella sagt: „Es ist abenteuerlich und aufregend. Aber uns wurde gesagt: Im echten Leben wären halt 90 Prozent nicht mehr hier, weil Ortshäuserkampf so eine hohe Verlustquote hat.“ Manche Kameraden hat das sehr nachdenklich gemacht. Sie vergleicht das mit einem Ballerspiel am Computer: Wenn einer sagt, „du bist jetzt tot“, muss man sich auf der Stelle hinsetzen und ist raus. Aber nur für diese Runde. „Respawn“, heißt das bei „Call of Duty“.
„Wir haben alle Empathie, wie schrecklich das in der Ukraine sein muss“, sagt Ella. „Wir haben hier Spaß beim Spielen. Bei denen ist alles Ernst.“
Tag 159, Monat 6
Die letzten Wochen haben begonnen. Ella sagt, sie lebt in zwei Welten. Bei allem Unbehagen an der Uniform: Das familiäre Gefühl, das durch die gleichförmige Kleidung entsteht, schätzt sie durchaus. Sie lässt weiterhin im Vagen, woher genau sie kommt. Pankow, sagt sie, im Zweifelsfall. Das ist nicht ganz so klischeeverschrien wie Prenzlauer Berg. Inzwischen hat sich bis zum Kompaniechef herumgesprochen, dass sie gern feministische Positionen vertritt. Der Kompaniechef heißt das gut.
In ihrem zivilen Umfeld findet Ella es gar nicht so leicht zu vermitteln, was sie bei der Truppe erlebt. Ihre Familie, ihre engsten Freunde sind interessiert und beeindruckt. Der weitere Freundeskreis, darunter viele Leute, die Ella als links und pazifistisch bezeichnet, reagiert mit Unverständnis: „Hä? Du bist bei der Bundeswehr? Wieso geht man denn da hin?“ Ella versucht zu vermitteln: Sie verstehe total, wenn man nicht gut finde, wenn Mehrausgaben für Verteidigung dazu führten, dass weniger Geld für Bildung und Soziales da sei. Und natürlich sei es brutal, auf Zielscheiben zu schießen, die aussehen wie Menschen. Einerseits. Andererseits macht sie ihre Punkte: Pazifismus? Nicht mehr zeitgemäß. Wo es einen Aggressor gibt, reicht Friedensliebe nicht aus. Das Paradoxe am Militär: „Wir rüsten auf, um uns hoffentlich nie verteidigen zu müssen.“ Und die Ukraine im Stich zu lassen und gegen Waffenlieferungen zu sein – „geht gar nicht“, findet Ella. In ihrer links-pazifistischen Bubble sind solche Gespräche jedes Mal eine Gratwanderung.
Auch bei der Bundeswehr stößt Ella an Grenzen. „Meine Talente liegen wirklich woanders“, ist ihr inzwischen klar. Schnelle Entscheidungen treffen, unter Stress klarkommen, gleichzeitig an viele Dinge denken: „Das ist einfach nicht mein Skill. Da bin ich nicht gut drin.“
Ein Kamerad, mit dem sie sich gut versteht, beschwert sich immer: Er würde lieber „mit wenigen, aber richtig kompetenten Soldaten in den Krieg ziehen als mit einer Masse von Dullis“. Was heißt das für Ella? Würde der Kamerad mit ihr in den Krieg ziehen? „Ich glaube nicht“, sagt Ella. „Ich bin schon auch ein Dulli.“ Aber während der Kamerad sich über die anderen aufregt, sagt er über sie: „Bei dir merkt man wenigstens, dass du Bock hast.“
Tag 162, Monat 6
Für die Abschlussübung sind sie noch einmal drei Tage im Wald. Los geht es mit einem Alarm im Morgengrauen. Die Lage: Durch einen Angriff auf die Ostflanke Europas wird der NATO-Bündnisfall ausgelöst. In der Region sind irregulär operierende Gruppierungen unterwegs, irgendwelche Saboteure, vermutlich organisierte Kriminalität. In einem solchen Fall muss die Bundeswehr sich selbst sichern. Nachdem ein Spähtrupp in der Nacht eine Sperre aus Stacheldraht mitten im Wald ausgemacht hat, stellt sich ein Leutnant auf einen kleinen Hügel: „Der Feind ist in unserem Stellungssystem drin. Das ist unser! Haben das alle verstanden?“ Die Truppe antwortet: „Jawohl!“ Kurz darauf wird gestürmt.
Maschinengewehrknattern zwischen Kiefern und Steineichen. Die Saboteure werden von Ausbildern in schwarzen Pullovern gespielt. Die F.A.S. darf fotografieren.
„Wenn ich eine weibliche Ausbilderin hätte, ich würde sie respektieren, egal, wie blöd sie wäre.“
Ella gehört zu den ersten Toten. Sie sitzt an einen dicken Baumstamm gelehnt, bis der Kompaniechef die Übung abbricht: Befreiungsversuch gescheitert. Im zweiten Anlauf haben die Heimatschützer mehr Erfolg. Auch wenn die Saboteure dort, wo sie sich verschanzt hatten, überall Minen und Sprengfallen versteckt haben. Ella hätte es erwischt. Ein bisschen unfair, gibt der Kompaniechef zu: Für den Umgang damit sind die Heimatschützer gar nicht ausgebildet. Aber wer hat je behauptet, Krieg wäre fair?
Der Hauptmann sagt: „Wir wollen positive Erinnerungen und Erfahrungen schaffen.“ Und: „Die sollen mit einem erhöhten Selbstbewusstsein hier rausgehen.“ Über Ella sagt er: „Die macht sich gut. Wir würden sie behalten.“
Tag 165, Monat 6
„Als ich am Freitag zurückgefahren bin, hätte ich fast losheulen können“, sagt Ella.
Sie kann immer noch keinen Klimmzug und ist genauso unorganisiert wie eh und je. Aber das ist längst nicht mehr entscheidend. Zuletzt fand sie es wichtiger, mit den Kameraden abzuhängen, als ins Gym zu gehen. Auch in der Innenstadt von Münster waren sie nicht mehr so oft wie am Anfang. Hauptsache zusammen sein.
Das Gespräch im Café kreist um dieses besondere Gemeinschaftsgefühl, das bei der Bundeswehr Kameradschaft heißt. Die Intensität der geteilten Erfahrung schweißt zusammen, „man denkt, man lernt die Leute richtig kennen“, sagt Ella – einerseits. Andererseits stellt sie fest, dass man nur einem gewissen Ausschnitt voneinander begegnet. Für sie selbst jedenfalls liegen Welten zwischen ihrem Leben bei der Truppe und in Prenzlauer Berg. Und ihr fällt auf, dass ihre Kameraden vor allem ihre unorganisierte Seite kennengelernt haben. Gar nicht das, „worin ich halt gut bin, in Gruppen arbeiten und Ideen entwickeln, soziale Interaktion“. Trotzdem hat die Kameradschaft sie gepackt. Sie sagt: „Es ist schon traurig. Es wird niemals mehr dieses Gemeinschaftsgefühl geben. Das ist jetzt einfach vorbei.“
Die Insider wird sie vermissen, wiederkehrende Witze, die aus albernen Situationen entstehen und Zugehörigkeit vermitteln. Dazu kommt der Bundeswehrsprech. Als sie einmal abends in einem Restaurant keinen Platz bekamen, sagte ein Kamerad, als wären sie im Feld: „Lageinformation: Wir standen gerade im Italiener. Er hat uns keinen Tisch gegeben. Meine Absicht ist es, wir verlegen in den Asiaten gegenüber. In zwo Mike“ – NATO-Alphabet für M wie Minuten – „in den Asiaten.“ Der militärische Ton, das kommandohafte Bellen – im Alltag fällt das Ella nicht mehr auf. Verpflegungsbereitschaft herstellen. Melden statt sagen.
23 Soldaten, davon bis zuletzt zwei Frauen: Sie hat sich daran gewöhnt, Teil einer Minderheit zu sein. Ella freut sich dafür umso mehr über jede Soldatin, die ihr begegnet. Vor allem wenn sie einen hohen Dienstgrad hat. „Oh, wenn du meine Vorgesetzte wärst“, denkt Ella dann. Sie sagt: „Wenn ich eine weibliche Ausbilderin hätte, ich würde sie respektieren, egal, wie blöd sie wäre.“
Im Herbst will Ella studieren. Medieninformatik. Das Bewerbungsvideo hat sie mit Unterstützung ihrer Kameraden in der Kaserne gedreht.
Manchmal stellt sie sich vor, wie sie eines Tages bei Jobinterviews gefragt wird: Du warst bei der Bundeswehr? Ihr Ja klingt kokett. Sie grinst. „Und dann hab ich voll was zu erzählen.“
Tag 204, Monat 7
Sie hat ihre Erkennungsmarke abgegeben, ihr Schießbuch, ihren Truppenausweis. Für eine letzte handschriftliche Unterschrift auf dem Laufzettel musste sie extra in eine Kaserne am anderen Ende von Münster. Typisch Bundeswehr, seufzt Ella. Gibt es heutzutage nicht Telefone, E-Mails, Scanner?
Die Uniform, die Ausrüstung – alles abgegeben. Nur die Kampfstiefel stehen jetzt bei ihr zu Hause. T-Shirts gelten als Unterwäsche und sind ebenfalls privat. Sie hat ihren beiden Geschwistern je eins geschenkt und dazu in bedrohlichem Ton gesagt: „Das war mal im Krieg.“
Der siebte Monat des Freiwilligendienstes ist gekappt worden. Eigentlich hätten die Heimatschützer in den letzten Wochen lernen sollen, wie die Bundeswehr mit den sogenannten Blaulichtkräften zusammenarbeitet, mit Polizei und Feuerwehr. Aber mit Blick auf gut 120 Rekruten, die demnächst die neue Basisausbildung beginnen, sind die Vorbereitungen dafür wichtiger. Ella und ihre Kameraden bummeln Überstunden ab und nehmen letzte Arzttermine wahr. Um das Jahr bei der Bundeswehr vollzumachen, können sie sich zu Reserveübungen melden. Vielleicht als Hilfsausbilder bei einer Übung im Wald den Feind mimen. Aber das ist freiwillig. Ella sagt: „Jetzt gerade hätte ich da wirklich gar keinen Bock drauf.“
Als Ella zum letzten Mal für drei Tage in der Kaserne ist, sind der Kompaniechef und ihr Zugführer für einen Lehrgang verreist. Auch die Hälfte des Zuges ist schon weg. Ella guckt Netflix und gibt sich Mühe, ein bisschen wehmütig zu werden: Hach, der Flur. Jetzt putze ich das letzte Mal Zähne. Letztes Mal Essen in der Truppenküche. Sie lächelt versonnen beim Gedanken an die Abende, an denen sie sich dort über die lustigsten Situationen des Tages amüsiert haben. Wie oft war sie selbst der Anlass – Ella, die Verpeilte.
Dieses besondere Gemeinschaftsgefühl, das bei der Bundeswehr Kameradschaft heißt: Die Intensität der geteilten Erfahrung schweißt zusammen.
Sie ist ein viertes Mal in Uniform Bahn gefahren, um ihre beste Freundin zu besuchen, die inzwischen in einer anderen Stadt studiert. Mutprobe. Sie hat im Hausflur gelauscht, ob die Luft rein ist, und ist blitzschnell runter auf die Straße gehuscht. Dann, Blick geradeaus, sich die Unsicherheit nicht anmerken lassen, einmal durch den Prenzlauer Berg. „Das war Endgame für mich“, sagt Ella. Im Zug hat sich dann eine junge Frau extrem freundlich nach ihr erkundigt, eine gute Erfahrung: „Eine Frau in Uniform ist ja immer ein Eye-Catcher.“ Ihre Freundin hat sie am Zug abgeholt. Ella zeigt ein Selfie, sie in Uniform neben einem grimassierenden Wuschelkopf im Ringeltop. „Du kannst mich jetzt nicht blamieren“, hat Ella zu ihrer Freundin gesagt: „Ich repräsentiere hier den Staat.“
Dann haben sie darüber geredet, dass Ella sich erstaunlich wenig verändert hat: „Lustig, wenn man sich erinnert, was man für Vorstellungen hatte: Ich habe gedacht, das wird meinen Charakter brechen.“ Schon das Wort Kaserne klang für sie nach einem dunklen Keller, in dem alle zusammengepfercht würden. Außerdem hätte sie gedacht, dass sie ihr „Disziplin einprügeln“ und sie zur Ordnung erziehen. Von wegen. „Ich bin noch genauso unordentlich, ich bin immer noch verträumt. Ich bin mir selbst wirklich sehr treu geblieben.“ Nur mit Männern komme sie vermutlich ein bisschen besser klar. Auch mit Zurechtweisungen unter Stress.
„Ich bin mir selbst wirklich sehr treu geblieben“, stellt Ella nach sieben Monaten bei der Bundeswehr fest. Sie ist selbst überrascht darüber.
Was sich verändert hat, ist ihr Körper. „Ich bin viel stämmiger geworden. An den Armen. An den Beinen.“ Eine Freundin, die sie lange nicht gesehen hat, war richtig beeindruckt. Ella findet das cool. „Das zeigt, was ich geleistet habe.“
Und wenn jetzt Krieg wäre? Die Frage stellt Ella sich oft: Was, wenn das Baltikum angegriffen würde? Wenn deutsche Soldaten dorthin müssten? Wenn Ella im Inland eingesetzt würde? Ihre Freunde scherzen, im Notfall könnte sie schwanger werden. Ella sagt: „Ich würde von mir hoffen, dass ich mutig bin.“ Wenn sie ihrem moralischen Kompass folgt, wenn sie nach ihren Idealen lebt, müsste sie dafür auch etwas riskieren, sagt sie. Aber sie bleibt realistisch: „Man weiß ja nie.“