Bülent Mumays Brief aus Istanbul: Youtube-Anschlag auf Erdogan?

Einundsiebzigjähriger Bauarbeiter starb nach Sturz aus dem 6. Stock der Baustelle.“ Leider haben Sie sich nicht verlesen. Der Rentner Selami Şimşek war aus Armut gezwungen zu arbeiten, doch nirgends außer auf einer Baustelle hatte er Arbeit finden können. Denn wie über 70 Prozent der Rentner hierzulande musste Şimşek mit einer Rente von umgerechnet 320 Euro auskommen. Um nicht hungers zu sterben, fing er auf der Baustelle an, stürzte aber bereits am ersten Arbeitstag in den Tod. In der Türkei erfuhr kaum jemand davon. Denn als Şimşek starb, beschossen sich Israel und Iran gegenseitig mit Raketen, und Erdoğan schilderte live in allen Fernsehsendern, welch große Sprünge die türkische Wirtschaft gemacht habe.

Angesichts der Fülle aktueller Ereignisse ging noch eine weitere Meldung unter. Das staatliche Statistikamt veröffentlichte die Aufstellung der jährlichen Sterbefälle in der Türkei. Der Ernst der Lage zeigt sich bei den Suiziden. Die Selbstmordrate hat den höchsten Stand in den 102 Jahren der Geschichte der Republik erreicht. 2024 haben 5,22 von 100.000 Personen ihrem Leben ein Ende gesetzt. Bei Erdoğans Regierungsantritt lag diese Zahl bei 3,49 auf 100.000 Personen. Die Suizidrate stieg also unter Erdoğans Regierung um 54 Prozent an. Die Statistik weist ein weiteres bemerkenswertes Detail auf: 72 Prozent der Menschen, die Hand an sich legen, sind entweder zwischen 15 und 34 Jahre alt oder über 55 Jahre. Die Sorgen von Selami Şimşek und seinen Altersgenossen kennen Sie. Doch warum steigen unter jungen Leuten die Suizide an?

Bülent Mumay
Bülent Mumayprivat

Weil die junge Generation erstmals in der türkischen Geschichte schlechtere Bedingungen vorfindet als die vorangegangene und unglücklicher und verzweifelter ist. Auf die Zukunft hat sie keine Hoffnung. Sechs von zehn jungen Leuten sind nicht in Beschäftigung. Einer von vier Universitätsabsolventen ist arbeitslos. Mittlerweile steht die Türkei an der Spitze der OECD-Statistik der „Neets“, also der jungen Leute, die weder in Beschäftigung noch in Ausbildung sind. Und die ohnehin wenigen hoch qualifizierten jungen Menschen suchen im Ausland eine Zukunft für sich. Kann es da ein Zufall sein, dass vor allem die Altersgruppe der 25- bis 29-Jährigen aus der Türkei auswandert?

1400 Kilometer für einen Hinweis

Zwischen der Suizidstatistik und der Wählerstimmung in der Türkei gibt es eine Parallele. Der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens Ank-Ar zufolge wird der inhaftierte Präsidentschaftskandidat der Opposition, Ekrem Imamoğlu, vor allem von jungen Wählern sowie solchen der Altersgruppe 55 plus unterstützt. 62,5 Prozent der 18- bis 34-Jährigen und 54,3 Prozent der über 55-Jährigen würden Imamoğlu wählen. Nur in der Wählergruppe der 34- bis 55-Jährigen liegt Erdoğan um 3,7 Punkte vorn. Wenn ich Ihnen dazu noch sage, dass die Altersgruppen, die Imamoğlu bevorzugen, 70 Prozent der Wählerschaft in der Türkei ausmachen, verstehen Sie vermutlich, warum das Palastregime die Opposition durch die politisierte Justiz zu unterdrücken sucht.

Wie Sie wissen, ließ Erdoğan den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu aufgrund von Korruptionsvorwürfen verhaften, kaum dass dieser offiziell seine Kandidatur für die Präsidentschaft bekannt gegeben hatte. Und am Tag nachdem Erdoğan Imamoğlus Universitätsdiplom, das Voraussetzung für die Kandidatur ist, annullieren ließ. Es ist mittlerweile mehr als 100 Tage her, dass ein Großaufgebot der Polizei Imamoğlus Wohnsitz stürmte. Seither konnte kein einziger Beweis für Korruption vorgelegt werden. Die Operation ging nach hinten los. Ganz im Gegensatz zu dem, was Erdoğan beabsichtigt hatte, glauben immer mehr Bürger, der Haftbefehl sei politisch motiviert gewesen, ebenso steigt die Zahl derer, die Imamoğlu unterstützen.

In Ermangelung eines Beweises für Korruption ergriff die Palastjustiz reichlich seltsame Maßnahmen. Seit meinem letzten Brief an Sie gab es folgende Entwicklungen: Imamoğlus Rechtsanwalt wurde verhaftet, der Vorwurf lautet, er habe die anderen Anwälte des Prozesses organisiert. Gegen Imamoğlu laufen mittlerweile mehr als zehn Verfahren. Auf der Suche nach angeblich versteckten Geldern ließ die Staatsanwaltschaft das Grundstück von Imamoğlus Vater mit schwerem Gerät durchsuchen, fand aber natürlich rein gar nichts. Das Richtergremium, das die Universität nach den Gründen für die Annullierung von Imamoğlus Diplom fragte, wurde vom Dienst suspendiert. Ein Richter wurde in eine Stadt 1400 km entfernt von Istanbul versetzt, nachdem er den Staatsanwalt in einem weiteren Verfahren gegen Imamoğlu an die Unschuldsvermutung erinnert hatte.

Noch ein Eigentor

Erdoğan weiß, dass er faire Wahlen nicht gewinnen kann, doch auch seine Strategie – „Wenn ich schon nicht gewinnen kann, dann mache ich meinen Widersacher verlieren“ – zog nicht. Im Gegenteil. Jede gegen Imamoğlu und seine CHP gerichtete Operation mindert nur weiter die Stimmen für das Regierungslager. Während die regierungstreuen Medien mit ihrer ganzen Macht rund um die Uhr Propaganda gegen die Opposition machen, untergräbt eine Handvoll unabhängiger Journalisten den Korruptionsvorwurf gegen Imamoğlu. Was der Palast natürlich nicht ungestraft hinnimmt.





Bild: Emir Özmen, Bearbeitung F.A.Z.



Seit 2016 berichtet Bülent Mumay in seinem „Brief aus Istanbul“ über die politischen Entwicklungen in der Türkei und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben.

Eine Auswahl von Beiträgen unserer Kolumne ist bei Frankfurter Allgemeine Buch erschienen.

Zur Verlagsseite

Einige Journalisten wurden verhaftet, ihre Wohnungen durchsucht, bei anderen wurde der Zugang zu ihren Auftritten in den sozialen Medien „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ gesperrt. Und gegen die wenigen oppositionellen Fernsehsender, die über die Verwerfungen bei der Operation gegen Imamoğlu berichten, hagelt es Strafmaßnahmen. Sözcü TV und Halk TV, die beiden meistfrequentierten oppositionellen Fernsehsender, wurden mit je zehn Tagen Sendeverbot belegt. Für den Fall nur einer weiteren Strafe droht ihnen der Entzug der Sendelizenz. Es ist natürlich kein Zufall, dass die Inhaber beider Sender im Ausland leben, weil ihnen in der Türkei aufgrund laufender Verfahren Haftstrafen drohen.

Am Ende meines letzten Briefes hatte ich geschrieben, dass mittlerweile 70 Prozent meinen, eine Wiederwahl Erdoğans wäre negativ für die Türkei. Mein Kollege Fatih Altaylı wurde verhaftet, nachdem er diese Angabe öffentlich gemacht und historische Beispiele dazu gebracht hatte. Nach exponierter Stellung in großen Medien gründete Altaylı einen Youtube-Kanal für politische Analysen. Dort wies er insbesondere auf die Rechtswidrigkeiten bei den Operationen gegen Imamoğlu hin. Im letzten Video auf seinem Kanal erwähnte er die auch von mir genannte Prozentzahl und erläuterte, wie wichtig den Wählern ihr Willen ist: „Das türkische Volk liebt Wahlen und will selbst über die Macht bestimmen. Wählt es etwa seinen Vater an die Macht, dann gefällt es ihm auch, über die Option zu verfügen, den Vater wieder abzuwählen. Das ist natürlich nichts Neues. Schauen Sie nur in die Geschichte dieser Nation. (…) Es ist eine Nation, die einmal ihren Sultan erdrosselt hat. Eine Nation, die den Sultan ausgebuht hat, wenn er ihr nicht gefällt, wenn sie ihn nicht will.“

DSGVO Platzhalter

Diese Sätze brachten Altaylı hinter Gitter. Nicht weil er mit diesen Worten Erdoğan bedroht hätte, sondern aufgrund des Paragraphen, der einen Anschlag auf den Staatspräsidenten ahndet. Unserer Justiz zufolge hatte Altaylı mit seinen Worten auf Youtube einen Anschlag auf den Präsidenten verübt.

Genau wie die Operation gegen Imamoğlu war auch die Verhaftung Altaylıs ein Eigentor. Altaylıs tägliche Videos erreichten früher maximal 500.000 Zuschauer. Die Briefe, die er seit seiner Verhaftung aus dem Gefängnis schreibt und die auf seinem Youtube-Kanal mit dem leeren Sessel im Hintergrund verlesen werden, erreichen täglich ein Publikum von 1,5 Millionen. Die Ironie ist nicht auf Youtube beschränkt. Der türkische Justizminister verteidigte Altaylıs Verhaftung mit den Worten: „Unser Staatspräsident wurde als Diktator geschmäht.“ Selbstverständlich ist Erdoğan kein Diktator, wer weiß, was unserem Kollegen widerfahren wäre, wenn er einer wäre.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.