
Der Tod von Brian Wilson, neun Tage vor seinem 83. Geburtstag am 20. Juni, lenkt den Blick zurück auf ein mythisches Kalifornien der Popkultur, das gegenwärtig in sein Gegenteil umzuschlagen scheint. Denn die Nachrichten, die immer wieder aus dem US-Bundesstaat und besonders aus seinem Palmenherz Los Angeles dringen, sind keine guten. Anfang des Jahres ließen verheerende Brände die gebauten Träume eines ozeanischen Paradieses in Rauch aufgehen, darunter diejenigen vieler Kreativer aus Musik und Film. Die Flammen der außer Kontrolle geratenen Waldbrände leckten auch an älteren Sedimenten der Kultur- und Migrationsgeschichte des fernen Westens, etwa an den prächtigen Safe-Häusern deutscher Exilierter wie Thomas und Katia Mann oder Marta und Lion Feuchtwanger, die darin einst Zuflucht vor den Nazis fanden. Die Razzien der Deportationsbehörde ICE führen dieser Tage auf brutale Weise vor Augen, dass der kalifornische Traum, wie ihn nach Exilierten und Hippies auch Eingewanderte vieler Länder, besonders Mittel- und Südamerikas, träumten, aus ist. Gleichzeitig weckt das Aufmarschieren der Nationalgarde gegen Demonstrierende schlimme Erinnerungen an die Gewaltexzesse der riots, wie sie 1965 und 1992 die Stadt der Engel an den Rand eines Bürgerkrieges brachten, dessen Neuauflage derzeit beängstigend nahe scheint.
Dabei hatte der Sonnenstaat schon immer seine Schattenseiten, die auch die strahlende Biografie Brian Wilsons verdunkelten, jenes tragischen Genies also, dessen Scheitern fast noch größer war als sein Erfolg. Seinen zunächst kometenhaften Aufstieg verdankt der 1942 in Inglewood im Los Angeles County geborene Brian Douglas Wilson einem Phänomen, das unter dem Stichwort „Surf“ verschiedene Genres umfasst, die in älteren Schichten der Westcoast-Popkultur wurzeln. Rund um das Wellenreiten, erfunden von Fischern der polynesischen Inseln, hatte sich schon im Geburtsjahrzehnt Wilsons eine multiple Alltagskultur formiert, die weit über den Trendsport hinausreichte. Legendenumwobene halbweltliche Gestalten wie der Gastronom und Glücksritter Ernest Raymond Gantt, der sich an verschiedenen Stränden des South Pacific herumgetrieben und nach einem Abstecher nach Australien am Strand von Los Angeles als Don(n) the Beachcomber neu erfunden hatte, versuchten dem Gleiten auf der Oberfläche des Meeres eine geradezu mythische Tiefe zu verleihen. Seine legendären Bars und Grillrestaurants stattete Gantt detailverliebt aus, mit Muscheltellern, Bambuswänden und meterhohen Tiki-Götzen, die mittlerweile unter dem Label Polynesian Pop die Fotoseiten von Coffee-Table-Books schmücken. Sein Kollege Victor Bergeron, besser bekannt als Trader Vic, expandierte aus seiner ersten Bar in einer aus Treibholz gezimmerten Hütte am Strand von Oakland heraus den Stil zum Franchise-Artikel und lizenzierte Hotelbars in den Hiltons in aller Welt. Jazzpioniere wie Martin Denny und Arthur Lyman schufen in den Fünfzigern dazu einen Sound, der unter dem zweifelhaften Label Exotica kulturelle Aneignung betrieb, aber auch als Einfluss auf spätere elektronische Musik gilt. Dies alles geschah just zu jener Zeit, als eine nach einer Reihe von Südseeinseln benannte, zweiteilige Strandmode bisweilen einen größeren Skandal erregte als die Atompilze der nuklearen Testoperationen Crossroads und Castle, die derweil über dem echten Bikini-Atoll in den blauen Südseehimmel schossen.
Die Fünfzigerjahre wurden zum goldenen Zeitalter des kalifornischen Surfkults. Friedrich „Frederick“ Kohner, ein jüdischer Journalist der Tageblätter von Berlin und Prag, der auf der Flucht vor dem deutschen Faschismus nach Malibu emigriert war, schrieb 1957 mit seinen Popromanen um das wellenreitende Mädchen Gidget den jugendgerechten Subtext dazu. Drei Verfilmungen und eine TV-Serie mit der jungen Sally Field setzten das kalifornische Surfphänomen bis 1966 telegen als Jugendkultur in Szene. Ebenfalls 1966 adaptierte es Bruce Brown in seinem zu Kultstatus gelangten Film Endless Summer für die Leinwand und entwarf darin dem Titel entsprechend ein sorgloses Leben in der meterhohen Brandung der globalen Surfreviere, untermalt von den Klängen einer Band mit dem strandtauglichen Namen The Sandals.
Unterdessen versammelte sich an der Westküste eine neue Generation von Stadtflüchtigen, deren Drive die Tiki-Pioniere der Vierziger und Fünfziger plötzlich alt aussehen ließ. Musiker wie Dick Dale, der ungekrönte König der Surfgitarre, oder Bands wie The Surfaris kultivierten einen Instrumentalsound, der im Crescendo seiner Riffs das Heranrauschen der Wellen und das Brechen der Brandung am Strand imitiert, im Surfaris-Song Wipe Out aus dem Jahr 1963 auch jenen disruptiven Moment, in dem es den Surfer vom Brett haut und in die Gischt des Weißwassers hineinreißt.
Das Streben des Brian
Es gehört zu den Paradoxien der Popgeschichte, dass die berühmteste Surfband The Beach Boys, bestehend aus den Brüdern Dennis, Carl und Brian Wilson, ihrem Cousin Mike Love und dem gemeinsamen Schulfreund Alan Jardine, weder surfen konnten (mit Ausnahme von Dennis), noch viel mit dem Genre im eigentlichen Sinn zu tun hatten. Die Geschichte der Boyband hat viele Anfänge (und noch mehr Enden), einer davon könnte ihr von der El Camino Highschool organisiertes erstes Auswärtskonzert 1963 im Auditorium von Sacramento gewesen sein – für stolze 500 US-Dollar Gage und 1,75 Dollar Eintrittspreis. Anders als die meisten Surfbands setzten die Strandjungen nicht auf einen repetitiven harten Gitarrensound, sondern auf mehrstimmigen Harmoniegesang. Damit schmeichelten sie den Ohren eines breiten Publikums in aller Welt, das die Surfkultur nur aus den Gidget-Filmen kannte und sich nun auch vor dem Plattenspieler in ein mythisches Kalifornien träumen konnte. In Welthits wie Surfin‘ Safari und Surfin‘ USA listen die Beach Boys die populären und geheimen surf spots der kalifornischen Pazifikküste auf: La Jolla, Malibu, San Onofre und Pacific Palisades. Allerdings bediente sich Surfin‘ USA großzügig beim Schema von Sweet Little Sixteen, einer Komposition des Schwarzen R’n’B-Musikers Chuck Berry, der deshalb nachträglich als Co-Songwriter hinzugefügt wurde.
Das Bestreben, sich vom Ruf eines mediokren Plagiators zu emanzipieren, gilt als einer der Gründe für den an Größenwahn grenzenden Ehrgeiz, mit dem sich Brian Wilson zum musikalischen Mastermind der vormaligen Boygroup aufschwang. In seiner von Mythen umstellten Biografie wird aber auch das eingeschränkte Hörvermögen des jungen Brian angeführt, der auf einem Ohr taub war. Deutet eine Erklärung auf eine Infektion in der Kindheit hin, so erklären andere das Leiden mit den so häufigen wie heftigen Schlägen seines tyrannischen Vaters. Die Hörbeeinträchtigung, die Wilson mit seinen Kollegen Eric Clapton, Phil Collins und Ludwig van Beethoven teilte, tat seinem kompositorischen Vermögen keinen Abbruch. Im Gegenteil wirken seine bisweilen überambitionierten Versuche, die von dem Arrangeur und Produzenten Phil Spector geschaffenen architekturalen Klänge der Wall of Sound nicht nur zu imitieren, sondern noch zu übertreffen, wie ein verzweifelter Versuch, auszugleichen, was ihm selbst an Raumhören fehlte. Wilsons mit dem Mehrspurverfahren zusammengeführte Soundwände errichteten unerhörte Klanggebäude, deren Bausteine in den Einzelaufnahmen immer neuer Sessions geformt wurden, weil selbst große Tonstudios für die monumentalen Ensembles zu klein waren. Sie übertrafen bald die Instrumentenzahl großer Sinfonieorchester. Hinzu kamen Sessions, deren Umstände, gelinde gesagt, ungewöhnlich waren.