Es wäre jetzt wohl der letzte Moment, kurz vor dem Start der Vendée Globe am Samstag. Man könnte Boris Herrmann noch mal an der Schulter packen und ihm seine eigenen Worte ins Ohr flüstern: „Bitte erinnert mich daran, das nie wieder zu machen!“
Und doch geht Boris Herrmann wieder an den Start der Vendée Globe, auf diese Hatz für Verrückte, die nur wenige Auserwählte bewältigen konnten. Die nackten Zahlen: Mehr als 600 Menschen waren im All, Tausende auf dem Mount Everest. Aber weniger als 200 Segler haben die Welt nonstop allein umsegelt. Es ist eines der letzten großen Abenteuer des Sports.
Eine kleine Aufzählung der Gefahren und Hindernisse, die auf den Weltmeeren lauern, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Eisberge, Wale, rätselhafte Orca-Angriffe, von Frachtschiffen verlorene Container, Segel zerfetzende Stürme, ins Mark kriechende Kälte, die ewigen Erschütterungen der Wellen, die den Schlaf rauben. Die Einsamkeit.
Trotzdem sind dieses Mal 34 Segler und sechs Seglerinnen am Sonntag am Start in der Bucht von Les Sables d’Olonne (13 Uhr), mehr als je zuvor. Wie Boris Herrmann brechen viele von ihnen erneut auf, trotz aller Strapazen. Im Ziel, weiß der 43-Jährige, sind „alle Qualen auf der Stelle vergessen“. Dass die Hälfte wohl nicht ankommen, sondern irgendwo auf den Weltmeeren in Schwierigkeiten geraten wird? Gehört dazu, wie der Geschmack des Salzes auf der Zunge.
Ausgedacht hat sich die Tortur 1989 der Franzose Philippe Jeantot. Seitdem beginnt alle vier Jahre in Les Sables-d’Olonne an der Atlantikküste das Rennen. Allein, ohne Stopp und ohne fremde Hilfe, führt es über 45 000 Kilometer um die Welt. Die Route ist grausam – und die Umrundung des ewigen Eises der Antarktis eine gefürchtete Angelegenheit. Nach dem Kap der Guten Hoffnung am Südzipfel des afrikanischen Kontinents führt der Kurs entlang der Eisgrenze durch das Südpolarmeer. Es geht an Australien und Neuseeland vorbei. Danach passieren die Segler den einsamsten Punkt der Welt, ein Flecken Wasser, an dem die Astronauten der ISS näher sind als den nächsten Menschen an Land.
Ein Schluck Whiskey für die Verblichenen auf dem Meeresgrund
Dann wartet das legendäre Kap Hoorn, für manche Segler das „Tor zur Hölle“: Hier umarmen sich Pazifik und Atlantik, wütende Winde treiben die Wellen machtvoll auf die Schiffe. Wer hier vorbeikommt, nimmt einen Schluck Whiskey auf die Verblichenen am Grund und gießt den Rest in das Meer, um Neptun gnädig zu stimmen – Segler sind auch heute noch abergläubische Menschen. Nach Norden geht es auf die Zielgerade, zurück nach Les Sables-d’Olonne. Ein neues Jahr wird begonnen haben, bis der Sieger in den Hafen einfährt. 80 Tage waren die Segler zuletzt bei der Auflage 2020/21 unterwegs.
Inspiriert wurde das Rennen vom Golden Globe Race 1968. Von neun Teilnehmern kam damals nur einer ins Ziel, der Brite Robin Knox-Johnston war damit der Erste, dem eine Solo-Nonstop-Umrundung der Welt gelang. Bei seiner Ankunft nach 312 Tagen wurde er im Königreich wie ein Held gefeiert. Doch in der Neuzeit der Vendée Globe gewannen ausschließlich Franzosen. Ist nun die Zeit gekommen, in der die Grande Nation sich vor einem Segler aus Deutschland verbeugen muss? Zumindest für Topfavorit Charlie Dalin ist Herrmann „ein Gegner, den man im Auge behalten muss“.
Bei der Vendée Globe 2020 hatte sich Herrmann mit einem beherzten Rennen viel Respekt verschafft. Bis zuletzt lag er auf Kurs Richtung Siegerpodest. Bis zu jener letzten vermaledeiten Nacht, in der er kurz vor dem Ziel mit einem Fischerboot kollidierte und sich auf Platz fünf ins Ziel schleppte. Nun wird Boris Herrmann durchaus mehr zugetraut.
Besonders, weil er mit der Malizia Seaexplorer III über eines der interessantesten Schiffe verfügt. Die meisten Yachten im Feld sind auf Flügeln unterwegs, auch das Schiff von Boris Herrmann hebt sich auf Tragflächen aus dem Wasser. Mit einem wuchtigen Rumpf ist es aber speziell für die schwere See gerüstet. In die Konstruktion hat Herrmann die Erfahrungen aus dem Eismeer einfließen lassen, wo die Wellen pausenlos auf die Segler einprügeln und die Schiffe ihre Fahrt verlangsamen mussten, um sich nicht mit der Nase in die nächste Welle zu bohren. Die Malizia soll dort schneller sein, wo die anderen Vorsicht walten lassen müssen. Dafür nimmt Herrmann in Kauf, dass er in den Leichtwind-Passagen zu Beginn des Rennens Nachteile haben wird.
Einen mittleren einstelligen Millionenbetrag soll der Neubau gekostet haben, Herrmann hat alles auf eine Karte gesetzt. „Wenn das neue Boot nicht fährt, wenn es nicht funktioniert, dann können wir einpacken. Davon hängt meine Karriere und jetzt einfach alles ab“, sagt Herrmann in einer Dokumentation des NDR, die ihn bei den Vorbereitungen auf diese Vendée Globe begleitet. Doch der Hamburger kann aufatmen, die Wette scheint aufzugehen. Immerhin stellte die Malizia im Atlantik einen Weltrekord auf, am 26. Mai 2023 legte sie 640,7 Seemeilen (1187 Kilometer) binnen 24 Stunden zurück, schneller war ein Einrümpfer noch nie.
Und trotzdem: Dieses Mal sei er noch aufgeregter als bei seiner Premiere. „Woran das liegt, weiß ich gar nicht so genau“, sagt Boris Herrmann wenige Wochen vor dem Start. „Warum mach’ ich das? Will ich das überhaupt?“ Man sieht Herrmann grübeln in der Doku. Aber vielleicht gehören die Zweifel einfach zu einem gesunden Geist, wenn man sich auf solch ein Abenteuer einlässt.
Der Urvater der Weltumsegler, Robin Knox-Johnston, hatte übrigens eine einfache Antwort auf die Frage nach dem Warum. „Ich segle um die Welt aus dem schlichten Grund, weil ich es verdammt noch mal will.“