
Tennis ist in jeder Hinsicht ein Verdrängungswettbewerb. Bei den Turnieren müssen von Runde zu Runde immer mehr Spielerinnen oder Spieler dran glauben, bis am Ende nur noch zwei übrig bleiben, die den Gesamtsieg unter sich ausspielen. Die Verdrängung beginnt aber schon vorher, wenn es um die besten Plätze geht. Üblicherweise werden den Lokalhelden oder den A-Promis unter den Profis der Centre Court überlassen, mit viel Tamtam und vollen Tribünen, während das Fußvolk auf die kleinen Außenplätze ausweichen muss. Wenn von diesen Gepflogenheiten abgewichen wird, muss etwas Besonderes im Busche sein.
Bei den Bad Homburg Open wurde der Turnierplan am Montag von vorn bis hinten auf das Erscheinen des allergrößten Verdrängungskünstlers ausgerichtet, den das deutsche Tennis hervorgebracht hat. Und wenn der einzigartige Boris Becker sich die Ehre gibt, zu einem Damenturnier anzureisen und dort einen Live-Auftritt auf Rasen hinzulegen, müssen selbst Frauen von Weltklasse in den Hintergrund rücken.
Also werden Laura Siegemund, die drittbeste deutsche Tennisspielerin, und Viktoria Azarenka, die Australian-Open-Siegerin der Jahre 2012 und 2013, auf den kleinen Matchcourt 1 verfrachtet. Dorthin, wo die Zuschauer großen Sport für umme geboten bekommen und die 2:6, 2:6-Niederlage der Schwäbin sehen konnten, die als letzte Deutsche aus dem WTA-Turnier ausschied. Aber Becker hatte ja auch einiges mitzuteilen an diesem Abend: übers Rasentennis im Allgemeinen und Alexander Zverev im Besonderen.

Die zahlenden Gäste saßen 200 Meter von den Außenplätzen entfernt auf dem provisorisch errichteten Centre Court, wo sie von Azarenkas Gestöhne unbehelligt blieben. Und wo Becker und seine kongeniale Partnerin Andrea Petkovic zum Podcast-Mixed antraten. Zwar waren weniger Zuhörer erschienen als zuvor Zuschauer, die Naomi Osakas Erstrundensieg sehen wollten. Doch Hunderten Tennisfans aus Hessen erschienen Wortwechsel mindestens ebenso verlockend wie Ballwechsel. Zumindest, wenn Boris Becker als Top-Speaker angekündigt wurde.
Die Rollenverteilung ist an diesem Montagabend dieselbe wie immer, seit die beiden Anfang des Jahres ihren Podcast „Becker Petkovic“ ins Leben gerufen haben. Leider begnügt sich die Darmstädterin allzu oft mit ihrer Rolle als Beckers Sidekick. Dabei hätte sie viel mehr zu sagen. So weiß Becker zwar sehr viel über das Tennisspiel, aber nicht so viel darüber, wer auf der Damentour WTA mit welchem Erfolg unterwegs ist. Diese Wissenslücken weiß Petkovic, bis zu ihrem Karriereende vor zwei Jahren selbst auf der WTA-Tour, quasi im Vorüberreden zu stopfen.

Aufgrund des großen Interesses, wie es im herkömmlichen PR-Deutsch heißt, sind Becker und Petkovic auf Tour gegangen. Stuttgart war vor zwei Wochen die erste Station, dort sprachen die beiden auf dem Hauptplatz vor allem über das sensationelle French-Open-Finale wenige Tage zuvor zwischen Carlos Alcaraz und Jannik Sinner. In Stuttgart musste das Podcast-Mixed verspätet beginnen, weil der Gedankenaustausch über die Centre-Court-Lautsprecher und das Ploppen der Bälle auf den Nebenplätzen nicht zueinander passten. In Bad Homburg ist der Centre Court weit genug vom restlichen Geschehen entfernt, sodass Siegemund und Azarenka nicht störten.
Ungebetene Ratschläge für Zverev
Die beiden spulten recht routiniert das zurückliegende Rasenturnierprogramm ab, inklusive ein paar Bemerkungen zu Alexander Bublik als Sieger von Halle („ein wahrer Rasenkünstler“), der Queen’s-Siegerin Tatjana Maria („die Tennissensation des Jahres überhaupt“) und Carlos Alcaraz, ebenfalls Gewinner im Londoner Queen’s Club („er läuft wie auf Wolken“ und „kann auf Wasser spielen“). Becker und Petkovic scheuten sich auch nicht, ein Terrain zu betreten, auf dem vor allem für Becker viele Fallen lauern: Für Alexander Zverev hatte der dreimalige Wimbledon-Champion und Eurosport-Dauerexperte abermals ungebetene Ratschläge parat, die der Betroffene schon beim letzten Mal doof fand. Der Weltranglistendritte hatte den Landsmann ironisch als „sehr, sehr schlau“ bezeichnet.
Falls Zverev die in Bad Homburg aufgezeichnete Podcast-Folge zu Ohren kommt, wird er „Becker Petkovic“ nicht viel verübeln können. Man war auf Harmonie getrimmt auf dem Centre Court im Kurpark. „Ich bin überzeugt, dass er die Nummer eins der Welt werden und ein Grand Slam gewinnen kann“, sagte der nicht mehr 17-, sondern 57-jährige Leimener: „Ich bin ja auf seiner Seite. Ich will ja, dass er gewinnt“, er gebe seinem Landsmann nur „Verbesserungsmöglichkeiten oder Hinweise“. Ob Beckers Charmeoffensive verfängt und die beiden ungleichen Brüder im deutschen Tennisgeiste wieder anfangen, miteinander zu reden? „In einer guten Partnerschaft“, so Beckers Angebot zur Güte, „muss man nicht immer einer Meinung sein.“
Der Altmeister bleibt aber Manns genug, zu seiner Meinung zu stehen und Zverev einen Ratgeber ans Herz zu legen, der nicht zur Familie gehört: „Eine Stimme von außen kann ihm etwas Neues beibringen“, wiederholte Becker und hat durchaus eine Reihe von guten Beobachtungen und Argumenten auf seiner Seite. Das Triftigste: „Gegen die besten Spieler der Welt spielt Sascha wie sonst, aber die haben sich verändert. Deshalb liegt es an ihm, sich weiterzuentwickeln.“
„Wir kritisieren ihn auf einem Niveau, das sehr hoch ist“
So hat Novak Djokovic im French-Open-Viertelfinale den Hamburger mit Stopps und Winkelzügen geradezu vorgeführt, während Zverev von Plan A nicht abwich und sehenden Auges in die vom Serben gestellten Fallen rannte. Dass Zverev neulich im Stuttgarter Finale zum fünften Mal nacheinander gegen den US-Amerikaner Taylor Fritz verlor und auch gegen den Russen Daniil Medwedew meistens als Geschlagener vom Platz geht, ist für Becker ein schlagender Beweis für Zverevs relativ stockende Entwicklung. „Weltklassespieler lernen dazu und wählen dann eine andere Taktik. Das hat Taylor gemacht, Sascha leider nicht.“ Die Spielstrategie anzupassen sei etwas, „was Sascha dazulernen kann“.
Zverevs Auftritte in Wimbledon vom kommenden Montag an wird Boris Becker von seinem Wohnort Mailand verfolgen. Im vergangenen Jahr war der Achtundzwanzigjährige im Achtelfinale gescheitert – an Taylor Fritz. Zverev sei derzeit „in blendender Form“, bescheinigte Becker. Seine Nebenfrau Andrea Petkovic übernahm „im Zwist“ mit Zverev die Rolle als Moderatorin und Mediatorin und sagte in Bad Homburg beschwichtigend: „Wir kritisieren ihn auf einem Niveau, das sehr hoch ist.“ Alexander Zverev hätte eigentlich keinen Grund mehr, böse zu sein.