Börsen-Experte Daniel Saurenz: „Die Anleger sind extrem sorglos“

Für die Aktienmärkte war 2024 ein Spitzenjahr. Investoren sind sich sehr sicher, dass es auch im kommenden Jahr so weitergeht. Gerade das macht Daniel Saurenz von Feingold Research skeptisch. Die gute Nachricht des Börsen-Experten: Sich abzusichern ist derzeit besonders günstig. Chancen lauern gerade bei „klassischen deutschen Werten“.

ntv.de: Der Aktienmarkt ist 2024 extrem gut gelaufen. Ist es an der Zeit, jetzt die Gewinne mitzunehmen? Besser kann es 2025 doch kaum noch werden, oder?

Daniel Saurenz: Das kommt darauf an, wie das private Depot aufgestellt ist: Wer sich 2024 an die Nasdaq drangehängt hat oder auch an den DAX 40, der hat wirklich Freude im Portfolio. Wer aber in der deutschen zweiten Reihe unterwegs ist, beim MDAX oder SDAX, oder etwa in der US-Gesundheitsbranche, der hat nicht so viel Spaß gehabt. Das heißt, jetzt ist die Zeit, das eigene Portfolio zu prüfen: War ich dabei bei dem, was möglicherweise überzogen ist? Sind die Bewertungen in meinem Portfolio noch zu rechtfertigen?

Also jetzt raus aus der Technologie, rein in solche Bereiche des Marktes, die zuletzt schlechter gelaufen sind, wie die deutschen Nebenwerte beispielsweise?

Die Technologie-Branche bleibt natürlich zentral, und die Nasdaq ist die Hauptbörse für die nächsten Jahre, möglicherweise für die nächsten Jahrzehnte. Die gesamte Welt wird immer technologischer. Das Geschäft der großen Plattformen wächst weiter. Das erleben wir alle beim Konsum, beim Reisen. Aber die Tech-Rally 2024 war aus meiner Sicht schon überzogen, und dann hat das Ganze einen immensen Boost bekommen durch die Wahl von Donald Trump. Aber wenn man sich die Kurs-Umsatz-Verhältnisse anguckt, beispielsweise bei Palantir oder Coinbase und Microstrategy aus dem Kryptobereich, dann sieht man klare Anzeichen einer Blase. Börsen können zwar lange irrational bleiben, und Blasen können sich weiter aufblähen, aber eigentlich muss da Luft raus. Allerdings: Das gilt nicht für die gesamte Technologiebranche: Bei Apple beispielsweise kann ich keine Übertreibung erkennen. Die verdienen gutes Geld.

Auf den – von den Tech-Giganten dominierten Gesamtmarkt – zu setzen, ist demnach nicht empfehlenswert? Stattdessen heißt es, zu differenzieren zwischen Marktsektoren und einzelnen Werten?

Es ist nicht lange her, dass wir schon einmal eine ähnliche Lage hatten. Das Jahr 2022 war für US-Technologiewerte USA und damit den Aktienmarkt insgesamt alles andere als prickelnd. Andere Titel haben sich aber trotzdem gut geschlagen. Aktuell sieht es so aus: Der S&P 500 – das ist der breiteste Leitindex, den wir haben – der ist inzwischen sehr, sehr teuer. Das Gleiche gilt für die Technologiebörse NASDAQ. Getrieben wird diese hohe Bewertung durch die „magnificent seven“, die sieben dominierenden Aktien: Nvidia, Alphabet, Microsoft, Amazon, Meta, Apple und zuletzt vor allem durch Tesla. Tesla ist – wie andere Wetten auf Vorteile durch die kommende Trump-Präsidentschaft – wirklich aus dem Ruder gelaufen. Und wenn diese Trump-Wetten auch nur teilweise rückabgewickelt werden, geraten die großen Leitindizes unter Druck. Das heißt nicht, dass gleichzeitig in Deutschland Aktien Sixt, Jungheinrich oder BMW fallen müssen. Solche Sektorrotationen oder Rotationen zwischen Wirtschaftsräumen gibt es immer wieder. Also ja: Jetzt gilt es zu differenzieren.

Viele Privatanleger sind über ETFs immer in der gesamten Breite des Marktes investiert. Wie können die sich differenzierter aufzustellen? Welche Branche könnten die sich einmal anschauen?

Einen Sektor habe ich ja schon genannt: Die US-Gesundheitsbranche wird an der Börse so schlecht bewertet wie seit mehr als 15 Jahren nicht mehr. Das hat damit zu tun, dass der Hype etwa um den Impfstoffhersteller Moderna oder den Ozempic-Produzenten Novo Nordisk abgeflaut ist. Inzwischen ist dieser Sektor richtig billig.

Sie haben auch einige deutsche Industriewerte genannt, bei denen Sie Potenzial sehen. Dabei geht doch die deutsche Wirtschaft und insbesondere die Industrie gerade den Bach runter, oder?

Ich glaube nicht, dass die ganze Industrie den Bach runtergeht. Zum einen: Bei DAX-Unternehmen wie SAP oder Münchener Rück sieht man ja, dass deren Geschäfts- und Kursentwicklung wenig mit der deutschen Konjunktur und den Rahmenbedingungen hier zu tun hat. Zum anderen werden wir ja nach der Wahl im Februar wohl eine neue Regierung bekommen. Und egal wie die genau aussieht, dürfte es dann mehr industriepolitischen Rückenwind geben.

Die einschlägigen Indikatoren zeigen: Bisher fällt die Stimmung in der deutschen Industrie ungebremst.

Mich erinnert die Lage der Industrie ein bisschen an 2009, die Zeit kurz nach der Lehmann-Pleite. Da war die Stimmung auch am Boden, nicht nur im Finanzsektor, sondern in der Industrie. Während die Krise am Aktienmarkt insgesamt bis weit ins Jahr 2010 reichte, hatten die Industrietitel ihr Tief schon im Frühjahr oder Sommer 2009 – also deutlich vorher, als auch das Stimmungstief in der Wirtschaft erreicht war. Wir haben uns bei Feingold Research jetzt einmal angeschaut, welche Aktien 2025 für einen solchen Umschwung infrage kommen: Also starke Dividendentitel, die nachvollziehbares Geschäft haben, im Moment aber massiv unter Druck stehen. Jungheinrich ist so ein klassischer Titel. BMW ist ein weiterer. Die wurden mit runtergezogen von Volkswagen, bei denen es wirklich desaströs aussieht. Aber BMW sieht es gar nicht so schlimm aus. Sixt ist eine weitere international starke Marke, die zuletzt an der Börse hart abgestraft wurde. Auch Lufthansa, die sehr zusammengestutzt wurden, zähle ich dazu. Bei diesen klassischen deutschen Titeln kann man aus unterschiedlichen Gründen Hoffnung haben, dass sie sich erholen – sie müssen ja nicht gleich neue Rekorde herbeizaubern.

Ein Risiko – unter anderem gerade für diese deutschen Unternehmen – sind Trumps Zollpläne, die den gesamten internationalen Handel beeinträchtigen könnten. Ist das ausreichend eingepreist an den Börsen?

Generell scheint der Markt für 2025 ein aus meiner Sicht unrealistisches Szenario einzupreisen, bei dem Trump alle seine Versprechungen für die Wirtschaft wahr macht, aber keinerlei negative Auswirkungen seiner Politik eintreten. Das setzt voraus, dass Trump die Märkte über Steuererleichterungen und Deregulierungen in den USA unterstützt, die amerikanische Wirtschaft gleichzeitig eine harte Landung vermeidet und – wie auch immer Trump das hinkriegen soll – die Inflation nicht eskaliert, trotz möglicher Zölle. Dieses Szenario finde ich ziemlich abenteuerlich. Zugleich ist die Absicherungsneigung der Investoren so gering wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die Anleger sind extrem sorglos. Niemand kann Kurskorrekturen oder Crashs an der Börse vorhersagen, aber die Erfahrung zeigt, wenn der Markt so sorglos ist, kommt es oft dazu, dass wieder einmal Luft herausgelassen wird.

Wie sichere ich mich als Privatanleger ab – am besten, ohne Chancen zu verpassen, falls die Kurse doch noch ein Stück weit nach oben gehen?

Das geht im Moment etwa mit Put-Optionsscheinen richtig günstig. Also wenn ich mein gesamtes Portfolio absichern will, brauche ich im Moment nur zweieinhalb Prozent des Depotvolumens dafür zu investieren. Für eine Teilabsicherung muss ich noch weniger aufwenden.

Dabei profitiert man davon, dass viele Anleger so unglaublich optimistisch sind und auf eine Absicherung verzichten?

Genau. Je sorgloser die Marktteilnehmer sind, desto günstiger sind Absicherungen über Put-Optionsscheine. Das ist wie bei einer Autoversicherung: Wenn ich 20 Jahre unfallfrei gefahren bin, dann ist die Kaskoversicherung ziemlich günstig. Komme ich jetzt zu meinem Versicherer und habe gerade einen Unfall gebaut, dann ist es deutlich teurer. Es ist sinnvoll, sich dann zu versichern, wenn die wenigsten es tun. Dann habe ich die besten Preise.

Der klassische sichere Hafen für viele Anleger ist Gold. Ist das eine sinnvolle Absicherungsstrategie angesichts der hohen Preissteigerungen beim Gold zuletzt?

Der Goldpreis ist schon auf einem sehr hohen Niveau. Ein noch größerer Exzess ist beim Bitcoin und bei anderen Kryptowährungen zu sehen. Das liegt unter anderem daran, dass 2024 mit dem Aktienmarkt auch nahezu alle anderen Anlageklassen zugelegt haben. Ein Blick in die Historie zeigt, dass andersherum, wenn Aktienmärkte fallen, dann fällt auch der Goldpreis – und in den vergangenen Jahren auch Krypto, weil einfach Geld aus dem Markt herausfließt. Für Rückschläge bei Aktien bietet das keine gute Absicherung.

Wenn es 2025 zu Rückschlägen oder Korrekturen kommen sollte: Sind das für Sie dann Kaufgelegenheiten? Oder bleibt Vorsicht angesagt.

Die Statistik zeigt: Auf lange Sicht liefern Aktien liefern auf jeden Fall Ertrag – in der Vergangenheit durchschnittlich etwa sieben Prozent pro Jahr. Kursrückgänge sind daher immer gute Gelegenheiten, nachzukaufen. Vor allem aber glaube ich, dass technologische Entwicklungen wie KI auch in den nächsten Jahren eine wichtige Rolle spielen werden. Zwischenkorrekturen auch im zweistelligen Bereich sind normal auf dem Weg nach oben. Auch wenn der DAX von seinem derzeitigen Stand bei über 20.000 Punkten einmal auf 17.000 zum Beispiel wieder zurückfällt, wäre das kein Grund nervös zu werden, sondern zu sagen: Mensch, jetzt hat sich meine Geduld gelohnt und ich kann wieder etwas günstiger in den Markt rein!

Mit Daniel Saurenz sprach Max Borowski.