
Ein Ruck ging durch den Saal, das Publikum erhob sich von den Sitzen. Am Ende vieler ausgestreckter Arme leuchteten Smartphonedisplays, alle Blicke richteten sich auf die hektische Menschentraube, die sich vorwärtsschob.
Der syrische Präsident Ahmed al-Scharaa trat am Samstag auf dem „Doha-Forum“ auf, einer großen internationalen Konferenz in der qatarischen Hauptstadt. Ihm wurde am Samstag der Empfang eines Rockstars bereitet. „Wir sind auf dem richtigen Weg“, sagte Scharaa kurz nach seinem Einmarsch auf dem Podium, wo er auch an den Vormarsch erinnert wurde, der ihn in sein Amt befördert hat.
Vor einem Jahr hatte Ahmed al-Scharaa das Doha-Forum in Abwesenheit in Atem gehalten. Seinerzeit kommandierte er eine Allianz von Islamistenmilizen unter dem Banner „Hayat Tahrir al-Scham“, deren Truppen einen spektakulären Eroberungszug führten und von Norden auf die Hauptstadt Damaskus vorrückten.
Die Spitzendiplomaten, die zu dieser Zeit in Doha anwesend waren, schienen von den Ereignissen ebenso überrollt wie die Soldaten des Assad-Regimes, die in Scharen ihre Waffen wegwarfen, Uniformen abstreiften und vor den anrückenden Rebellen davonliefen.
Der iranische und der russische Außenminister sahen nicht gut aus, als sie sich vor ihren Schützling Assad und sein zusammenbrechendes Regime stellten. Der UN-Sondergesandte Geir Pedersen räumte während eines Presseauftritts ein, alles, was er jetzt sage, könne in wenigen Stunden schon wieder hinfällig sein. Hinter den Kulissen wurde fieberhaft an einem Pakt wichtiger Akteure gearbeitet, nun keine neuen Machtkämpfe zu führen und zusätzlichen Brände zu legen.
Das Wohlwollen des US-Präsidenten erworben
Ein Jahr später zeigte sich der syrische Übergangspräsident am selben Ort entspannt im Auftreten und mit sich selbst zufrieden. Syrien erlebe seine „besten Zeiten“. Die Welt habe das Potential des Landes erkannt. „Wir haben unseren regionalen und internationalen Status wiedererlangt“, sagte Scharaa.
Dass er ein Jahr nach dem Sturz des Assad-Regimes auf große außenpolitische Erfolge verweisen kann, gestehen ihm auch seine Kritiker zu. Scharaa hat sich das Wohlwollen von US-Präsident Donald Trump erworben, der ihn im Weißen Haus empfing – und das als früherer Dschihadistenführer, der unter dem Banner von Al-Qaida kämpfte und im Irak gegen die amerikanischen Besatzer. Syrien ist die meisten Wirtschaftssanktionen losgeworden, die schärfste davon – der amerikanische „Caesar Act“ – soll im kommenden Jahr aufgehoben werden.
Die neue Führung unter Scharaa hat die arabische Führungsmacht Saudi-Arabien und deren De-facto-Herrscher, Kronprinz Muhammad Bin Salman, hinter sich. Das schwerreiche Qatar zählt zu den Unterstützern. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich mit dem islamistischen Scharaa arrangiert. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unterstützt die neuen Machthaber in Damaskus.
Auch europäische Länder wie Deutschland haben sich dazu entschlossen, auf Scharaa zu setzen, zu dem es derzeit keine Alternative gebe. Russland, einst Kriegspartei an der Seite Assads, ist an funktionierenden Beziehungen interessiert.
Der syrische Machthaber wird von Diplomaten als machtbewusster Pragmatiker eingeschätzt, der seine ideologische, islamistische Haltung im Zweifel hintanstellt. Scharaa ist sogar bereit, sich mit Israel zu arrangieren, das er in Doha scharf für seine andauernden Militäraktionen in Syrien kritisierte.

Auf innersyrischem Parkett fällt Scharraas Bilanz deutlich ambivalenter aus. Der Wiederaufbau stockt, auch Großinvestitionen fließen eher spärlich. Die Wirtschaft des vom alten Regime ausgepressten und in vielen Jahren des Krieges geschundenen Landes kommt nur schwer auf die Füße. Es herrscht ein eklatanter Mangel an Wohnraum. Scharaa und seine Führung könnten eine solche Mammutaufgabe auch nicht binnen eines Jahres bewältigen, heißt es von westlichen Diplomaten – die zugleich zur Eile drängen und zur Geduld mahnen.
Es herrscht indes weiterhin Misstrauen gegenüber der Läuterung des früheren Dschihadistenführers und seinen Versprechen, ein freies, geeintes Syrien aufbauen zu wollen. Scharaa musste sich in Doha denn auch Fragen nach seiner terroristischen Vergangenheit stellen, ebenso nach dem Misstrauen von Minderheiten und Zweifeln an seiner Läuterung und an seinem Willen, die Macht irgendwann abzugeben. Institutionen seien wichtiger als Personen, sagte Scharaa, der versprach, es werde nach fünf Jahren wie vorgegeben ein neuer Präsident gewählt. Es blieb offen, ob er dann selbst antritt.
Neu geschaffene Institutionen konkurrieren mit Ministerien um Geld
Oppositionelle kritisieren, Scharaa habe mitnichten die syrische Geschichte neu geschrieben, wie er versprochen hat. „Er bewahrt eine autoritäre Kultur und baut an einem tiefen Staat, um seine Herrschaft abzusichern“, sagt ein gut vernetzter syrischer Kritiker, der namentlich nicht genannt werden will; Scharaa habe wohl auch nicht viel anderes kennengelernt. Anzeichen dafür sehen mehrere Beobachter in Damaskus. Scharaa hat per Dekret eigene Institutionen geschaffen, die mit Ministerien um Geld und Ressourcen konkurrieren – und von engen Vertrauten besetzt sind. Dazu zählt etwa eine Zollbehörde.
Einer von Scharaas Brüdern führt einen Fonds, in den Vermögenswerte von Geschäftsleuten fließen, die zum Kartell des Assad-Regimes zählten. Im Außenministerium, geführt vom Scharaa-Vertrauten Asaad al-Schaibani, ist ein „Generalsekretariat für politische Angelegenheiten“ eingerichtet worden, das Kritiker mit der Baath-Partei, der Staatspartei des alten Regimes, verglichen. Deren Vertreter, die über informelle Macht verfügten, saßen damals in jedem Ministerium.
Angst und Wut unter den Minderheiten
Gefährlicher für die Stabilität Syriens ist derzeit der Umgang der neuen Machthaber mit den Minderheiten – und der Triumphalismus unter vielen Sunniten, die nach Jahren der Unterdrückung jetzt Gehorsam verlangen. Milizen unter dem Banner der Regierung verübten Gräueltaten an Drusen und auch an Alawiten, der Bevölkerungsgruppe, der der gestürzte Gewaltherrscher angehört. In der Stadt Suweida, die im Sommer von einer Gewaltorgie erschüttert wurde, sagten Einwohner im September, sie würden die Scharaa-Regierung niemals mehr akzeptieren. Die örtlichen Anführer weigern sich, Damaskus die Kontrolle übernehmen zu lassen.
Unter den Alawiten herrschen auch zunehmende Angst und Wut. Sie klagen darüber, dass Morde und Entführungen zum Alltag gehörten. Und unter manchen nimmt die Lust am Aufstand zu, oder zumindest, damit zu liebäugeln. Kräfte des alten Regimes machen sich das zunutze und verbreiten Aufrufe, zu den Waffen zu greifen. Scharaa setze auf den Sicherheitsapparat, anstatt moralische Autorität herzustellen, sagt ein Kontakt in Damaskus, der sich an Vermittlungsbemühungen beteiligt.
In Doha ließ der syrische Präsident Einwände, die in diese Richtung gingen, gelassen an sich abprallen. Syrien habe Koexistenz definiert – und die Welt werde sich irgendwann ein Beispiel an Syrien nehmen, wie man Krisen bewältige, sagte er. Mitarbeiter seiner Regierung feierten in Doha Scharaas „perfekten Auftritt“. Ein kritischer Landsmann zeigte sich skeptischer, sowohl was den Auftritt als auch die Zukunft des Landes betrifft. „Wir werden sehen“, sagte er.
