Besserwisser von der Seitenlinie – Gesellschaft

Stell dir vor, die besten Schachspieler der Welt spielen gegeneinander und kaum einen interessiert’s. Nein, um die Schachweltmeisterschaft in Singapur geht es nicht. Das Match zwischen dem Chinesen Ding Liren, 32, und dem Inder Gukesh Dommaraju, 18, hat in den vergangenen drei Wochen Zuschauerrekorde gebrochen. Hier geht es um ein Event, das wenige Tage vor WM-Beginn am selben Ort stattgefunden hat. Da trafen sich der Weltranglistenerste Magnus Carlsen und der Weltranglistenzweite Fabiano Caruana zum „Freestyle Chess Summit“.

Freestyle Schach ist eine besondere Form des Denksports, bei der die Ausgangsstellung der Figuren vor Partiebeginn ausgelost wird. Carlsen hält diese Variante für cooler als klassisches Schach, das ihn inzwischen langweilt. Nachdruck verlieh er dieser Kein-Bock-mehr-Haltung, als er vor zweieinhalb Jahren ankündigte, nicht mehr um die Schachweltmeisterschaft spielen zu wollen. Nach zehn Jahren verließ er die größte Bühne der Schachwelt freiwillig. Aber wie das eben ist mit den großen Entertainern: Niemals gehen sie so ganz.

Also kam der Norweger in diesem Jahr auch nach Singapur – um dort sein neues Hobby zu präsentieren. Er spielte Freestyle Schach gegen Caruana; erst in einer sehr dunklen Bar, dann auf einer sehr teuren Yacht und schließlich in einer unterirdischen Lagerhalle für sehr wertvolle Kunstgegenstände. Zur folgenden Pressekonferenz, bei der die weltweite „Freestyle Chess Grand Slam Tour“ angekündigt wurde, kamen genau zwei Journalisten, wie einer der beiden in der Zeit berichtete. Auch ansonsten hielt sich das Interesse sehr in Grenzen.

Ex-Weltmeister scheinen besonders anfällig für die Denke: Früher war alles besser

Als kurz darauf die Weltmeisterschaft losging, war Carlsen schon wieder weg. Ihn langweilt das Event schließlich. Oder? Nun, für Kommentare von der Seitenlinie bei seinem eigenen Online-Medium reicht das Interesse. „Er hat keine einzige gute Entscheidung getroffen“, sagte Carlsen gleich nach der ersten Partie über Gukesh. Und über den zurückhaltend agierenden Ding mopperte er: „So viele Angriffsmöglichkeiten hätte ich bei einer Weltmeisterschaft gerne mal gehabt.“

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Schachgroßmeister die Partien ihrer Kollegen analysieren. Doch Ex-Weltmeister scheinen dabei besonders anfällig für eine meist unsinnige Denke unserer Zeit: Früher war alles besser! Auch Wladimir Kramnik, Weltmeister von 2000 bis 2007, schrieb kürzlich bei X: „Sorry für die harten aber wahren Worte, dieses Spielniveau hat nichts mit einer Schachweltmeisterschaft gemein.“

Das mit dem schwachen Niveau ist umstritten, tut aber ohnehin nichts zur Sache. Entscheidend ist, dass täglich Hunderttausende stundenlang dabei zusehen, wie Ding und Gukesh klassisches Schach gegeneinander spielen. Seit 150 Jahren wird ungefähr in diesem Format um die Weltmeisterschaft gekämpft.

Und darin stecken doch zwei schöne Erkenntnisse: Weder war früher alles besser, noch muss man Altbewährtes unbedingt neu erfinden.