Möglicherweise ist es eine matriarchale Welt, in die uns das Ensemble aus Tänzerinnen in Akram Khans Choreografie „Thikra: The Night of Remembering“ entführt. Schließlich tanzen ausschließlich Frauen auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele, die die Deutschlandpremiere des Stücks präsentierten. Das Ambiente ist nächtlich, Höhlen und Felsen deuten sich an.
Aber Frauen haben nicht nur die Rolle von Königin oder Priesterin, von Göttin oder Dämonin inne, und vom Chor der Gemeinschaft, der in seinen Biegungen der Leiber, im Schleudern der langen Haare und Aufstampfen der Füße einen unwiderstehlichen Sog entfaltet. Frauen sind auch hier in der Rolle der Opfer, von der Gemeinschaft betrauert und doch auch von ihr gebraucht.
In dieser Hinsicht scheint das Stück des britisch-indischen Choreografen Akram Khan, das er zusammen mit der saudi-arabischen Künstlerin Manal AlDowayan (für narratives Konzept, Kostüme und Bühnenbild) entwickelt hat, gar nicht so weit entfernt von dem Tanzklassiker „Das Frühlingsopfer“, das zu der Musik von Igor Strawinsky seit über 100 Jahren von vielen Tanzensembles immer wieder neu interpretiert wird. Was in „Thikra: The Night of Remembering“ wiederholt in die Erinnerung dringt und schmerzhaft durchlebt wird, ist Verlust.
Was auch immer hier beschworen wird, bei diesem Tanz geht es um alles
Einmal, zweimal und noch einmal und wieder ist es eine einzelne junge Frau, die niedersinkt. Eine Figur in Schwarz kommt hinzu, manchmal kriechend wie eine Spinne, vielleicht ist sie als Dämonin zu lesen. Sie scheint Leben geben und nehmen zu können. Gestenreich und mit vielen Grimassen, die eben an die Bilder von Dämonen erinnern, wacht sie über den gefallenen Körpern, beschwört etwas herbei, jagt etwas anderes in die Flucht, bewegt die Körper der Hingesunkenen wie steife Puppen. Und bringt sie manchmal auch wieder unter die Lebenden zurück.
Treibend, wuchtvoll, in rhythmischen Wellen
Doch dieses narrative Element ist vergleichbar mit einer Zeichnung, die auf einen stark farbigen Hintergrund aufgetragen wird. Das ist zum einen die Musik und das Klangdesign des Komponisten Aditya Prakash, treibend, wuchtvoll, in rhythmischen Wellen, in die sich unheimliche Geräusche schieben: das Knirschen von Felsen, die Drohungen elementarer Gewalten. Zum anderen aber nimmt das Tanzensemble als unisono sich bewegende Gruppe für sich ein. Die langen dunklen Haare, die hier alle tragen, verlängern die Bögen ihrer Schwünge.
In die langen Linien hacken Fersen und gekreuzte Füße scharfe Akzente. Die Hände fahren manchmal über das Gesicht und lassen eine grimmige Grimasse zurück, die mit der nächsten Bewegung wieder weggewischt wird. Eine klassische indische Tanztechnik, Bharatantyam, liegt dem zugrunde und mündet in eine expressive, elementare, emotions- und spannungsgeladene Dynamik. Was auch immer hier beschworen wird, bei diesem Tanz geht es um alles.
Die Uraufführung des Stücks war unter freiem Himmel, im Wadi AlFann, Valley of the Arts in AlUla. Versucht man das zu googeln, gerät man gleich auf Tourismusseiten von Saudi-Arabien. AlUla ist eine Oasenstadt in einer Wüstenregion, reich an Felsen und antiken Felsgräbern. Die Anmutung des Ortes, die Vorstellung vom Atem der Jahrhunderte, ist höchst wahrscheinlich in das Stück hineingeflossen und hat sein Rekurrieren auf ein Geschichtsbild, in dem das Tragische und das Opfer unausweichlich sind und wieder und wieder durchlebt werden müssen, gestärkt.
Diese Überlegungen sind der Versuch, sich zu erklären, warum das Stück so ist, wie es ist. Denn etwas daran ist auch enttäuschend gemessen an den Erwartungen, die man an den britisch-indischen Choreografen vor dem Hintergrund seines Werkes hat. Was diesmal zu fehlen scheint, ist die Ebene der Gegenwart, die Reibungen an ihren Forderungen und Überforderungen. Zu harmonisch, nein, zu ungebrochen ist „Thikra: Night of Remembering“ im Archaischen zu Hause. In einer Welt vor unserer Zeit, in die sich sonst vor allem Fantasyfiguren flüchten, die dann ja auch oft dem Raunen des Schicksals nicht entgehen können.
