
Ferhat Kartal steht in der Mitte seines Wohnateliers in einer Kreuzberger Altbauwohnung. Sonnenlichtflecken kriechen über dunkle Dielen, aus der offenen Küche donnern helle, metallisch klingende Töne, über die sich ein gepresst summendes Blasinstrument schiebt. Kartal wippt in den Knien: „Jetzt feiert sie Hochzeit!“, ruft er strahlend, rupft ein Stück Musterstoff von seinem Moodboard und beginnt in Zeitlupe zur melancholisch eingefärbten Melodie der Sängerin Zozan einen Govend – einen traditionellen kurdischen Volkstanz – zu tanzen.
Erst vor wenigen Tagen ist der Modedesigner aus dem türkischen Teil Kurdistans wiedergekehrt, aus dem Heimatdorf seiner Familie ganz in der Nähe von Batman. Verwandte hat er dort besucht, den aus Rojava geflüchteten Freund Serbest Salih unterstützt, der dort ein analoges Fotostudio für junge Geflüchtete als Hilfsprojekt gegründet hat – und gearbeitet. „Ich habe einen neuen Entwurf mitgebracht, basierend auf einem Kleidungsstück, welches mir als junger Mann dort maßgeschneidert wurde, als ich zum ersten Mal Kurdistan besuchte“, erzählt Kartal: „Es hat Tage gedauert, weil ich mit anderen Silhouetten arbeite. Doch es war ein Zu-Hause-Gefühl, in meiner Muttersprache arbeiten zu können. ‚Ferhat, Tu agir i‘ auf kurmancî – Ferhat, du bist Feuer‘, hat der Schneider zu mir gesagt. Und ich habe geantwortet: ‚Ich liebe deine Hände. Sie sind Gold.‘ Er hat ein ausgezeichnetes Handwerk.“
In Ferhat Kartals Sprache lauern viele dieser übertrieben poetischen Superlative. Ganz selbstverständlich schwingen sie in den sonst so klaren, kühlen Sätzen, in denen die Worte warm aufleuchten, sobald sie die Menschen in seinem Leben beschreiben.
Seine gesamte Kollektion ist unisex
Der Sohn kurdischer Einwanderer wird 1978 in Celle, Niedersachsen in eine Familie mit vielen Geschwistern geboren. Die Liebe zur Sprache wird schon zuhause gepflegt – zur kurdischen und zur deutschen, wie Ferhat Kartal betont.
Er wächst in Bielefeld auf, macht Fachabitur für Gestaltung, beginnt eine Schneiderlehre: „Ich hab’s geliebt! Ich hatte eine Obsession. Ich hab den Starkstrom im Keller meiner Eltern für die Nähmaschine benutzt, meine Freunde und ich – wir hatten ständig neu Kleider und Looks.“ Kartal ist getrieben von der Idee, Modedesigner zu werden. Er fährt nach London, um das Central Saint Martins College zu besichtigen, ohne Mappe und ohne Geld fürs Studium: „Ich wollte es wenigstens mal sehen.“ Kartal braucht kein Studium, der Erfolg kommt auch so. Der junge Schneider macht schnell Karriere. Er pendelt von München nach Berlin, nach Hongkong, Shanghai, Tokio, in die ganze Welt. Kartal wird führender Designer in großen deutschen Häusern. Strenesse, Escada, Iris von Arnim.
Dann kommt Corona. Während die Welt stillsteht, orientiert sich Kartal neu, wie so viele. 2022 launcht er seine erste eigene Kollektion. Zunächst ohne Verkaufsabsicht. „Es war ein Experiment, ein Versuch. Es ging nicht um Profit, sondern darum, meine Arbeit mit Kultur zu verbinden.“
Über das eigene Leben und seine Entscheidungen, spricht Kartal in knappen, entschiedenen Worten, mit der Autorität höflicher Eleganz. „Es ging um eine subtile, textile Erweiterung der Sprache. Mode kann vermitteln. Meine Stücke sind mehr als nur Bekleidung. In ihnen lebt die Poesie der kurdischen Sprache.“ Das gilt teils wortwörtlich.
Seine Stücke tragen Namen. „Hozan“ heißt eine weit geschnittene Hose. Auf Kurmancî – kurdisch heißt das „Intellektuelle:r, Poetin“. Ebenso wie Kartals Kollektionen kennt die kurdische Sprache bei Namen kein Gender. Seine gesamte Kollektion ist unisex. Ferhat tauft seine Modelle, beseelt sie mit den Namen seiner Familie und Freund:innen: eine weitere Hose nach dem kurdischen Freund Serbest, dessen Name Freiheit und Unabhängigkeit bedeutet, das Hemd „Demhat“ – „es ist Zeit, eine neue Epoche hat begonnen“ – nach einem Bruder, der Rock „Kamilla“ nach der Berliner Stylistin Kamilla Richter, sowohl beruflich als auch privat eine langjährige Begleiterin des Designers.
Foto:
Ferhat Kartal
Ferhat Kartal ruht in seiner Getriebenheit
Die Schnitte sind ausgearbeitet, die Silhouetten geometrisch, die Materialien hochwertig. Wolle, Seide, schwere Stoffe, weiche Texturen, komplizierte Webungen. Das von Kartal verwendete Textil ist größtenteils Restbestand aus Luxus-Produktionen aus Italien, „dead stock“. Er bezieht es über seine alten Kontakte „aus der Industrie“, fertigt damit sample pieces, Beispielmodelle, an, zeigt sie in wechselnden Schauräumen. Erst wenn die Käufer:innen bestellt haben, geht die Kollektion in Produktion. Heraus kommen kleine Auflagen, auf die Körper der Kund:innen zugeschnitten, ohne Lagerkosten und überschüssige Reststücke.
Auch hier: kein Platz für Zweifel. Nicht an sich selbst, nicht am Schicksal und nicht daran, dass die Formalien unwichtig sind, dass es um mehr geht, als um kommerziellen Erfolg – auch oder obwohl schon die renommierte Investorengruppe Tomorrow Group London Gespräche über das Label mit ihm sucht.
Ferhat Kartal ruht in seiner Getriebenheit. Seine Entwürfe, sein System lehnen sich auf. Er folgt weder der Logik der Branche noch derjenigen der Kunst. Ferhat Kartal macht, was Ferhat Kartal macht. Alles ist Widerspruch und darin doch mit sauber gestochenen Nähten zusammengefügt. Die Mode, die Sprache, die Poesie, die Jahrhunderte alte kurdische Kultur und der drei Sekunden währende Zeitgeist der Fashionindustrie. „Ich interessiere mich nicht für aktuelle Trends. Menschen, Musik, Kunst – daraus ziehe ich meine Inspirationen“, sagt Kartal und deutet vage in Richtung eines Rupprecht-Geiger-Drucks an seiner Wand. Daneben blickt eine alte Frau von einem Foto sanft-kritisch ins Zimmer. „‚Da Seve‘ – Mutter Seve. Meine Oma. Sie ist immer dabei. Seve bedeutet Apfel.“
Da ist sie wieder. Kartals Wärme. Das glucksende Kippen zwischen Strenge und fast kindlicher Ausgelassenheit. Der Designer stellt eine kleine Skulptur auf den Tisch. Zwei Menschen, lang wie eine Handfläche, nebeneinander. Beide tragen die gleiche Kleidung. „Diese Skulptur habe ich in Indonesien gekauft. Es sind der König und die Königin von Timur. Später habe ich verstanden, dass sie für mich auch meine Eltern bedeuten können. Sieh, wie stark und sphärisch sie sind. Ihre gleichberechtigte Kleidung. Wir haben in Kurdistan Feminismus schon immer anders gelebt. Auch die Frauen kämpfen. Was sollen die denn auf die Männer warten? Auch das ist in meinen Designs. Der Widerstand. Der Kampf. Die kurdischen Gefühle. Die kurdische Melancholie. Ich zelebriere sie, sie bewegt und inspiriert mich.“
Etwas von diesen Worten bleibt im Raum zurück. Setzt sich fest in der Kleidung wie ein Duft. Mode kommuniziert. Mode schützt. Mode setzt Grenzen. Ein Schutzraum für die Melancholie. Ein textiles Manifest für die Freiheit der Gedanken – und der Liebe. Kartal setzt nach: „Es gibt ein Lied vom Musiker Beyto Can aus einer Zeit, in der kurdische Musik in der Türkei verboten war. ‚Her tist Vire‘. Das heißt nicht, alles ist gut, sondern alles ist hier.“ Und dann lacht Ferhat Kartal wieder. Sein lautes, raues, warmes Lachen.