
Neulich bereiste der ranghöchste Bewohner der deutschen Hauptstadt Lateinamerika. Frank-Walter Steinmeier war unter anderem in Uruguay unterwegs, Fußballtermine legte sich der Bundespräsident allerdings nicht. Aus Sicht seiner Mitberlinerinnen und -berliner konnte man das für bedauerlich halten. Steinmeier hätte sachdienliche Hinweise zu der Frage bekommen können, wie man es mit weniger Einwohnern, als Berlin hat, auf dem grünen Rasen bis an die Weltspitze schafft, statt von einer Krise in die nächste zu taumeln. So wie jetzt.
An diesem Samstag besucht der FC Bayern den 1. FC Union Berlin (15.30 Uhr). Hätten die Köpenicker zuletzt nicht in Frankfurt überraschend gewonnen, wäre die Gefahr noch greifbarer gewesen, dass Berlin am Saisonende wieder zur einzigen EU-Hauptstadt wird, die nicht in ihrer nationalen ersten Fußball-Liga vertreten ist.
Die Lage bei Union war nach zuvor lediglich sieben Punkten aus neun Spielen unter dem seit Jahresbeginn amtierenden Trainer Steffen Baumgart derart besorgniserregend gewesen, dass sich der Präsident Dirk Zingler in einem Videointerview an alle Unioner wandte. Prophylaktisch beschwor er, dass sie ein möglicher Abstieg „als Klub mental nicht umwerfen“ dürfe. Jetzt stehen die Köpenicker immerhin neun Punkte über dem direkten Abstiegsplatz 17, den Holstein Kiel besetzt.

:Auch das Fiél-Experiment ist gescheitert
Cristian Fiél sollte Offensivfußball und Kontinuität in die Hauptstadt bringen. Doch nun senken die Hertha-Verantwortlichen den Daumen – und verabschieden zum elften Mal binnen zehn Jahren einen Trainer.
Dreißig Kilometer weiter sieht die Situation noch weit bedrohlicher aus. Denn im Berliner Westend kämpft die Hertha nicht nur gegen den Abstieg in die dritte Liga. Sondern auch gegen den damit wohl einhergehenden Sturz ins Bodenlose. Noch beträgt Herthas Vorsprung auf Platz 17 (Ulm) sieben Punkte. Aber sollte der Tabellen-16. Braunschweig an diesem Sonntag gegen die Berliner gewinnen, wäre er mit Hertha punktgleich. „Ich glaube, dass der Druck eher auf Braunschweiger Seite liegt“, sagt Hertha-Trainer Stefan Leitl, der erst vor drei Spieltagen das Amt von Cristian Fiél übernommen hat und noch sieglos ist: „Wir haben nicht den Druck, dieses Spiel gewinnen zu müssen.“ Der alte Schlachtruf „Kniet nieder, ihr Bauern, die Hauptstadt ist zu Gast“, dürfte den Hertha-Fans dennoch derzeit nur schwer über die Lippen gehen.
Leitls Aussage soll offenkundig Druck von der verunsicherten Mannschaft nehmen, überrascht aber trotzdem insofern, als Hertha langsam die Kurve kriegen sollte. Denn im Jahr 2025 taumelt der stolze Klub heftiger als Harald Juhnke in seinen exzessivsten Zechnächten. Seit Jahresbeginn hat Hertha nur einen Sieg (in Paderborn), ein Unentschieden (gegen Nürnberg) und sechs Niederlagen verzeichnet; in den letzten drei Spielen gelang ein einziges Tor, in der Vorwoche beim 1:2 gegen Schalke vor rund 70 000 Zuschauern. Die Niederlage löste auch bei der Hertha-Führung das Bedürfnis aus, sich an die Mitglieder zu wenden – aber nicht in persönlicher Form, wie bei Union-Präsident Zingler, sondern durch eine Mail, die mit „Hertha BSC“ unterzeichnet war: „Unsere Pflicht ist es, sich mit allen möglichen Szenarien auseinanderzusetzen. Das machen wir“, hieß es dort. Und: „Kein Ausgang dieser Saison wird uns unerwartet treffen.“
Das war eine euphemistische Umschreibung für das Horrorszenario: den Abstieg in die Drittklassigkeit, der Herthas prekäre wirtschaftliche Situation durch den Einbruch von TV- und Sponsoreneinnahmen unabsehbar verschlimmern würde.
Man sei auf alles vorbereitet, sagt die Hertha-Führung. Konkrete Insolvenz-Fragen bleiben unbeantwortet
Ende Februar hatte der Klub in einer Pressemitteilung zum Halbjahresergebnis noch über Fortschritte bei der Konsolidierung berichtet: „Unser Sanierungskurs zeigt Wirkung“, wurde Geschäftsführer Tom E. Herrich zitiert. Das negative Eigenkapital belaufe sich auf 32,5 Millionen Euro, was unter anderem deshalb bemerkenswert ist, weil Hertha seit 2013 durch Großinvestoren wie KKR und Lars Windhorst mehr als 400 Millionen Euro eingesammelt hatte – und vor weniger als vier Jahren noch ein positives Eigenkapital von mehr als 100 Millionen Euro aufwies.
Aber: Die Kosten seien massiv und nachhaltig gesenkt worden; dass das Halbjahresergebnis bei minus 9,46 Millionen Euro gelegen habe, sei vornehmlich auf „Abschreibungen und den Abgang von Restbuchwerten“ in Höhe von rund 7,2 Millionen Euro zurückzuführen. Der Abfluss an Liquidität habe sich in Grenzen gehalten. Sogar der Mühlstein, den die Hertha mit sich herumträgt, schien weniger schwer zu wiegen: Hertha gab sich guter Dinge, die horrend verzinste Nordic-Bond-Anleihe (40 Millionen Euro) im November fristgerecht zurückzahlen zu können. Nur: Was, wenn man absteigen sollte?
Auf konkrete Fragen, ob dann eine Insolvenz drohe oder ob eine Planinsolvenz nach Beispiel des mittlerweile wieder in die Zweitliga-Spitze gekletterten 1. FC Kaiserslautern vorbereitet werde, teilte Herrich mit, dass man sich der „Verantwortung“ bewusst sei, „sich mit allen Eventualitäten zu beschäftigen“. Es sei jedoch „aktuell nicht der Zeitpunkt, sich zu Spekulationen über mögliche Entwicklungen zu äußern“. Am Ziel, die 40-Millionen-Anleihe zum Stichtag 8. November zu bedienen, halte Hertha aber fest: „Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und unsere strategischen Planungen werden dabei selbstverständlich fortlaufend bewertet.“
Ob mit oder ohne Abstieg – längst zeichnet sich ab, dass die Hertha im Sommer personell vor einem Umbruch steht. Seit Monaten steht die sportliche Leitung in der Kritik. Der Kader, den Sportdirektor Benjamin Weber und Andreas „Zecke“ Neuendorf (Leiter Lizenzspielerbereich) zusammengestellt haben, wurde bereits hinterfragt, als die Debatten noch nicht um die Frage kreisten, ob die Hertha-Profis auf die Härte des Abstiegskampfes vorbereitet sind. Dennoch wurden die Verträge von Neuendorf und Weber, die wegen ihrer Hertha-Vita als Inkarnation des sog. „Berliner Wegs“ gelten, im vergangenen Oktober verlängert – bis 2027. Nun stehen wohl auch sie infrage. Denn „Hertha BSC“ war es im Brief an die Mitglieder ein Anliegen zu unterstreichen, „dass uns im Anschluss an die Saison eine schonungslose Analyse der sportlichen Situation erwartet“.
Als ausgemacht gilt zudem, dass die besten Spieler die Hertha verlassen werden. Für Fabian Reese, Ibrahim Maza, Michaël Cuisance oder Derry Sherhant gibt es Interessenten aus der Bundesliga und dem Ausland. Verkäufe würden der Hertha im Sommer immerhin wirtschaftlich helfen – aber nur, sofern der Abstieg verhindert wird. Denn der Kicker berichtete soeben, „das Gros“ der Verträge der Hertha-Profis sei nur für die 1. und 2. Liga gültig, bei Abstieg könnten sie ablösefrei gehen. Die Geschäftsführung sagt dazu lediglich, man äußere sich nicht zu Vertragsinhalten. Die Erfahrung lehrt: Eine Hilfe sind solche Szenarien in Abstiegskämpfen nie.