In der schlimmstmöglichen Variante ihrer selbst, und die zeigen sie der Welt gerade oft genug, da sind die Amerikaner heillos zerstritten. In ihrer schönsten Form, da sind sie sentimental, und deshalb dürfte am Mittwochabend kaum ein Amerikaner nicht gerührt gewesen sein beim Anblick von Aaron Judge.
Der Superstar der New York Yankees, der nach seiner Baseball-Karriere ohne zusätzliches Training sofort Hollywood-Superheld werden könnte, stand im achten Abschnitt an der zweiten Base, die Lage war so: Die Los Angeles Dodgers führten 3:1 in der Best-of-seven-Finalserie und 7:6 in dieser fünften Partie in der Bronx. Sollte nichts mehr passieren, wären die Dodgers Meister. Judge war derjenige Läufer, der auf seiner Position eine vielversprechende Chance hatte, für New York zu punkten – falls ein Mitspieler den Ball ausreichend gut träfe, um Judge das Erreichen der Homebase zu ermöglichen. Damit hätte er dieses Spiel und womöglich die komplette World Series verlängern können.
Judge wartete und wartete, und wahrscheinlich dachte er in diesen Minuten daran, was alles passiert war: Wie er, der Yankees-Held, in dieser Serie zur tragischen Figur wurde, weil er einfach nicht traf. Wie er im zweiten Abschnitt von Spiel fünf in einem Homerun seine Auferstehung zelebrierte und für einen 5:0-Zwischenstand sorgte – was in Bars von Los Angeles bereits für Nervosität sorgte: Die Dodgers würden doch nicht einen 3:0-Vorsprung verspielen, oder etwa doch? Und wie er mit einem geradezu grotesken Fehler – er ließ bei einem Routine-Fang den Ball aus dem Handschuh plumpsen – das Comeback der Dodgers einleitete.
Nun stand er da an der zweiten Base und war in diesen Minuten Schrödingers Judge – Held und tragische Figur zugleich, aber eben nur eines davon nach den nächsten Schlagduellen. Judge wartete und wartete, man sah die verzweifelte Hoffnung in seinem Gesicht – jedoch traf kein Kollege; Judge lief mit traurigst möglichem Blick zur Ersatzbank. Die Dodgers gewannen. Vielleicht gibt es wegen dieser Tragik sogar eine Handvoll New-York-Mets-Fans, die Anhänger des verhassten Lokalrivalen am Donnerstagmorgen nicht gehässig auslachen, sondern mitfühlend zunicken. Trösten wäre zu viel verlangt, aber dazu gleich mehr.
Ein derart tragischer Verlierer braucht freilich einen ebenbürtigen Helden, und das waren die Dodgers. Sie waren ganz einfach zu gut, das beste Team der Saison – und sie haben natürlich einen, über den sie in Los Angeles noch in Jahrzehnten reden werden. Historische Einordnung: In der World Series 1988 wusste Kirk Gibson wegen eines lädierten linken Knies und eines verstauchten rechten Knöchels nicht, auf welchem Fuß er humpeln sollte – und doch jagte er den Ball am Ende der ersten Partie auf die Tribüne zum sofortigen Sieg.
36 Jahre später war Freddie Freeman ordentlich am Knöchel verletzt, womöglich hätte er gar nicht spielen sollen – und knüppelte den Ball am Ende der ersten Partie zur genau gleichen Uhrzeit um 20.38 Uhr in den genau gleichen Tribünenblock 306 wie einst Gibson. Die Partie war wie damals sofort vorbei, und weil alle Bases besetzt waren, war es der erste Walk Off Grand Slam Homerun in der 121-jährigen World-Series-Geschichte.
Das war jedoch nicht alles: Der 35 Jahre alte Freeman schaffte in jeder der nächsten drei Partien jeweils einen Homerun, und weil er auch bei seinen letzten beiden World-Series-Partien für die Atlanta Braves (er war 2022 gewechselt) jeweils einen Homerun geschafft hatte, ist er nun der erste Spieler der Baseball-Geschichte, der in sechs World-Series-Partien nacheinander einen Ball über den Zaun geknüppelt hat.
„Zur richtigen Zeit in Form“, sagte Freeman danach recht locker. Er hielt sich damit an eine wichtige Heldenregel: Warum angeben oder überhöhen, wenn man es gar nicht nötig hat? Die Heldensagen wurden zu diesem Zeitpunkt bereits geschrieben; in der Los Angeles Times etwa bezeichnete Kolumnist Bill Plaschke – der das Team übrigens angesichts eines Rückstands in der ersten Playoff-Runde noch übel geschmäht hatte – diese Mannschaft als „die großartigste der Los-Angeles-Dodgers-Geschichte“.
Die besten Tröster der Welt
Das Interessante: Das stimmt wahrscheinlich sogar – und sie dürften noch besser werden. Der japanische Superstar Shohei Ohtani, der in der Sommerpause von Lokalrivale Angels gekommen war und einen 700-Millionen-Dollar-Vertrag für zehn Jahre unterschrieben hatte, wurde in dieser Saison der ersten Spieler, der mindestens 50 Homeruns (54) und mindestens 50 Stolen Bases (59) schaffte. In der World Series blieb er blass, in der kommenden Saison wird er jedoch – heuer hatte er wegen einer Operation am Wurfarm verzichtet – auch als Werfer eingesetzt. „Wir freuen uns schon“, sagte Dodgers-Manager Dave Roberts noch am Abend des Triumphs – betonte aber, dass er dann doch erst einmal diesen Titel zu genießen gedenke.
In der schlimmstmöglichen Variante ihrer selbst sind die Amerikaner zerstritten, in ihrer schönsten Form sind sie sentimental. „Los geht’s, Los Angeles: Tanzt mit euren Dodgers“, schrieb Kolumnist Plaschke: „Umarmt euren Nachbarn mit dem Gibson-Trikot, weint vielleicht sogar ein bisschen. Das habt ihr euch verdient.“ Man möchte von LA nach New York rufen: Umarmt euren Nachbarn mit dem Aaron-Judge-Trikot – auch als Mets-Fan. In ihrer schönsten Form sind die New Yorker die besten Tröster der Welt.