Es ist neun Uhr morgens Ortszeit in Toronto, als Elizabeth Gilbert den Videocall entgegennimmt; sie ist am Ende einer Pressereise und sitzt in einem Hotelzimmer. Zuvor war sie bereits bei einem Selbsthilfetreffen für Süchtige. In ihrem Buch schreibt sie, man könne sie sogar um drei Uhr nachts wecken und live ins Radio setzen – sie wäre bereit.
Ms. Gilbert, hätte ich Sie heute Nacht geweckt und gefragt: „Worum geht es in Ihrem neuen Buch?“, was hätten Sie geantwortet?
Zunächst wäre ich sehr beunruhigt, dass Sie nachts bei mir im Zimmer stehen(lacht). „All the Way to the River“ erzählt die Geschichte meiner langen Freundschaft und meiner kurzen, aber sehr intensiven Beziehung mit der Schriftstellerin, Filmemacherin und Musikerin Rayya Elias . . .
Sie hat uns beide zu den höchsten Höhen und in die tiefsten Tiefen geführt. Es ist mein Versuch, zu verstehen, was mit uns passiert ist.
Sie schreiben darin über Ihre tiefsten Geheimnisse, zum Beispiel Ihre Sex- und Liebessucht.
Meine Geheimnisse waren ziemlich offensichtlich (lacht). Wie jeder Süchtige dachte ich, dass ich etwas verbergen könnte. Aber jeder konnte sehen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich sprang von einer Beziehung zur nächsten. Jetzt denke ich mir: Wieso soll ich nicht teilen, was mir geholfen hat? Ich glaube nicht, dass meine Geschichte so ungewöhnlich ist.
Wo ziehen Sie dabei die Grenze zwischen Ehrlichkeit und Intimsphäre?
Ich mache mir keine Sorgen um meine Privatsphäre, nur um die von anderen Menschen in meinem Leben. Mir war klar: Dieses Buch funktioniert nur, wenn ich komplett ehrlich bin. Außerdem wäre es nicht fair, über Rayyas dunkle Seiten zu sprechen, wenn ich nicht auch von meinen eigenen erzähle.
Ursprünglich lernten sich die beiden Frauen kennen, weil Elias Gilberts Friseurin war. Als Elias sich verspekulierte und ihre Wohnung verlor, bot Gilbert ihr an, in eine umgebaute Kapelle zu ziehen, die ihr gehörte. Aus der Bekanntschaft wurde eine enge Freundschaft.

In „Eat, Pray, Love“ gab es ein Happy End. Wie unterscheidet sich das neue Buch davon?
Es ist dasselbe verletzte Kind. Aber am Ende dieses Buches glaube ich nicht mehr, dass mich ein anderer Mensch heilen kann. Mein Leben lang dachte ich: Ich werde die Person finden, die meine Wunde heilen kann. „Eat, Pray, Love“ endet, indem ich mit einem Mann in den Sonnenuntergang segle. „All the Way to the River“ endet mit mir – ich bin zu Hause, allein, und kümmere mich um mich selbst. Das ist der Unterschied. Das eine ist viel glamouröser, nicht wahr?
Wie hoch war der Druck diesmal, an den Erfolg anzuknüpfen?
Das Gute ist: „Eat, Pray, Love“ kann man nicht wiederholen. Egal wie hart ich arbeite, der Verlag oder sonst wer. Das Buch ist, glaube ich, 23 Millionen Mal verkauft worden. Das nimmt den Druck.
Wenn wir jetzt tiefer in Ihre Geschichte eintauchen: Ihre Freundin Rayya ist vor sieben Jahren gestorben. In welchen Momenten denken Sie heute an sie?
Oh mein Gott, die ganze Zeit! Ich war vor zwei Tagen in Detroit. Das ist Rayyas Heimatstadt. Ich denke an jeder Ecke an sie. Dort haben wir Hotdogs gegessen, dort waren wir beim Footballspiel der Detroit Lions, dort ist der See, dort ist der Fluss, alles ist mit ihr verbunden, sogar die Farbe des Himmels. Selbst jetzt, nach all den Jahren, hatte ich einen Moment, als das Flugzeug gelandet ist, in dem mir die Tränen kamen, einfach so. Selbst das Wort „Detroit“ sieht für mich aus wie das Wort „Rayya“. Es ist dieses Gefühl, von dem ich in meinem Buch schreibe, als würde sie im Raum stehen, wenn ich um die Ecke biege, oder mich vom Flughafen abholen. Die Menschen, die sterben, gehen nicht weg. Sie sterben, aber sie gehen nicht.

Ist das schmerzhaft oder auch tröstlich?
Es ist sehr zärtlich. Es gibt Momente, in denen ich sie spüre – ihren Sinn für Humor. Ich höre sie über Menschen reden. Ich höre, wie sie mir Ratschläge gibt. Das größte Geschenk, das Rayya mir gemacht hat, war, dass sie gesagt hat: „Ich werde nicht ruhen, bis ich sehe, dass du in jeder Situation deines Lebens auf eigenen Beinen stehst.“ Und wenn ich auf eigenen Beinen stehe, spüre ich sie.
Der Titel „All the Way to the River“ ist eine Metapher dafür, mit jemandem bis ans Ende und darüber hinaus zu gehen. Sie haben Ihre Freundin Rayya, die bis zu ihrem Tod drogen- und alkoholabhängig war, den ganzen Weg begleitet. Was haben Sie dabei über das Leben und die Liebe gelernt?
Jemand sagte neulich zu mir, dieses Buch beschreibe so realistisch, was es wirklich bedeutet, in einer Beziehung zu sein. Das ist keine Fiktion. Die Liebesgeschichte mag für uns als Traum begonnen haben, aber sie wurde schnell Realität. Man sieht Dinge an sich selbst, die extrem schmerzhaft sind. Man verhält sich auf eine Weise, auf die man nicht stolz ist. Man wird provoziert. Man liebt sich, aber man hasst sich auch. Man muss einander vergeben, man muss sich selbst vergeben. Man muss verstehen, wo die Grenzen der Macht dieser Person liegen. Aber irgendwann erkennt man, dass einen niemand aus der Situation retten kann. Selbst wenn andere es wollen, können sie es nicht. All das kommt in unserer Geschichte sehr deutlich zum Ausdruck.
Sie schreiben über den Gedanken, Ihre Partnerin umzubringen. Zu diesem Zeitpunkt ist Rayya schwer krebskrank; dennoch helfen Sie ihr, sich Drogen zu besorgen, um die Schmerzen auszuhalten. Sie werden im Wahn von ihr beleidigt, Ihre Beziehung liegt am Boden. Eines Nachts liegen Sie im Bett, und Ihnen wird klar: Entweder muss ich sie umbringen – oder mich. Was genau ging Ihnen in dem Moment durch den Kopf?
Ich fühlte mich, als wäre ich in der Hölle gefangen. Ich sah keinen Ausweg. Wenn Menschen daran denken, sich selbst oder andere umzubringen, dann sind sie an diesem Punkt angelangt. Eine Sache, die ich liebe, wenn ich zu den Treffen für Süchtige gehe, ist, dass diese Räume voller Menschen sind, die zugegeben haben, dass sie am Ende ihrer Kräfte waren. Ich musste akzeptieren, dass ich keine Macht hatte und dass mein Leben unkontrollierbar war. Ich musste kapitulieren. Gott sei Dank habe ich aufgegeben, statt einen Mord oder Selbstmord zu begehen.
Sie wirken abgeklärt, wenn Sie darüber sprechen.
Ich kann jetzt darüber sprechen, ohne dass dieses Gefühl in meinen Körper zurückkehrt. Seit das Buch erschienen ist, sagen mir Menschen: „Wissen Sie, ich bin auch Pflegekraft für jemanden, der im Sterben liegt, der besondere Bedürfnisse hat, der an Demenz leidet, und ich bin auch am Ende meiner Kräfte.“ Das passiert Menschen, wenn sie in solchen Situationen sind, die sagen dann zu mir: „Ich bin so dankbar, dass Sie das erzählt haben. Dass Sie wollten, dass sie stirbt, dass Sie sie umbringen wollten. Ich habe diesen Gedanken auch, als wäre das der einzige Weg, wie ich mich aus dieser Falle befreien könnte.“ Ich habe so viel Mitgefühl für mich selbst, für Rayya, für jeden, der so fühlt.
Am nächsten Tag saßen Sie heulend in einem Park und riefen Freunde an. Denen erzählten Sie von der „Hölle“, in der Sie steckten. War das ein Moment von „Ich reiße das Pflaster ab“?
Das war kein Moment der Heilung. Sondern eine Tat der Verzweiflung. Ich hatte schlicht keine Ideen mehr. Im Buch spreche ich über den Begriff „image management“. Dafür braucht man nicht berühmt sein, das tut jeder von uns: anderen etwas vorspielen.
Auch ich. Bis zu diesem Moment. Ich war nicht mehr in der Lage, mein Image zu kontrollieren. Ich musste einfach die Wahrheit sagen, dass ich nicht mehr wusste, was ich tun soll.
Ehrlichkeit ist also der einzige Weg, sich zu helfen?
Ja. Die Wahrheit wird dich befreien, aber zuerst wird sie dich fertigmachen.

Das öffentlich zu machen, erfordert Mut.
Ich habe keine Kinder, ich habe keine Partner. Meine Eltern und Freunde lieben mich, wie ich bin. Seit ich eine öffentliche Figur bin, werde ich kritisiert. Es ist so viel Scham dabei – vor allem bei Frauen –, wenn sie sagen: „Ich bin sex- und liebessüchtig.“ Einer muss damit anfangen. Ich mache das gerne. Bei Drogen- und Alkoholabhängigkeit ist allen bewusst, was das ist. Dass Menschen aber von Menschen abhängig sein können, nicht.
Gilbert beschreibt in ihrem neuen Buch, dass ihre Sex- und Liebessucht sie dazu gebracht habe, über das reguläre Maß von menschlicher Nähe und Geborgenheit hinauszugehen. Vielmehr überschüttete die heute Sechsundfünfzigjährige ihre Partnerinnen und Partner mit Liebe, Geld und Aufmerksamkeit. Nach eigener Aussage benutzte sie andere Menschen, um in einen emotionalen Rausch zu gelangen. Seit einigen Jahren lebe sie enthaltsam, sagt sie.
Wie geht es jetzt weiter?
Ich bin glücklich. Rayya hat mir gezeigt, was passiert, wenn eine süchtige Person denkt, sie sei geheilt. Als Süchtige bin ich nie geheilt. Wir sagen in den Meetings: Wir haben einen Tag Aufschub. Deshalb ist meine Genesung das Wichtigste. Das bedeutet, dass ich, bevor ich heute mit Ihnen telefoniere, bereits an einem Zwölf-Stufen-Treffen teilgenommen habe.
Was sollen die Leser mitnehmen, wenn sie Ihr Buch schließen?
Dieses Buch ist für alle, die schon mal am Boden lagen und nicht weiterwussten – sei es wegen psychischer Krankheit oder wegen Sucht. Für Menschen am Ende ihrer Kräfte. Allen, die das nachvollziehen können, möchte ich sagen: Es ist nicht deine Schuld. Du bist zutiefst unschuldig an deinem Trauma, du bist zutiefst in deinem Drama gefangen, und es gibt einen Weg nach vorn.
Wird Julia Roberts noch mal als Elizabeth Gilbert zurückkommen – diesmal mit diesem Abschnitt Ihrer Geschichte?
Nein (lacht)! Dieses Buch gehört nicht auf die Leinwand. Es ist genau das, was es sein sollte.
Zur Person
Geboren 1969, aufgewachsen in Connecticut.
Studium in New York, arbeitet als Journalistin, schreibt Bücher.
Durchbruch 2006 mit „Eat, Pray, Love“, einem Weltbestseller; 2010 mit Julia Roberts verfilmt.
Aktuelles Buch: das Memoir „All the Way to the River“ (S. Fischer, 464 Seiten, 25 Euro).
Lebt in New Jersey.
