Autoindustrie unter Druck: Wie lange reichen die Chips noch?

Der Ausfall von Chiplieferungen des Herstellers Nexperia bringt die Autoindustrie immer stärker in Bedrängnis. Ein erstes prominentes Beispiel für Kurzarbeit könnte das Bosch-Werk in Salzgitter werden, wo Steuergeräte für Antriebstechnik hergestellt werden. Tausend Mitarbeiter wären dort betroffen, wenn keine Chips mehr geliefert würden – und darauf bereitet sich das Unternehmen vor, wie die IG Metall bestätigt. Noch in dieser Woche soll eine Betriebsvereinbarung zur Kurzarbeit geschlossen werden.

Ähnliche Meldungen wird es in nächster Zeit wohl öfter geben. Volkswagen hatte für diese Woche sogar einen Produktionsstopp für den Golf durchgespielt. Nun ist eine Zwischenlösung bis diesen Donnerstag gefunden, und am Freitag bildet der Reformationstag eine willkommene Brücke. Doch darüber hinaus will im Augenblick niemand eine Prognose geben. Das müsse von Tag zu Tag neu abgeschätzt werden, heißt es bei Volkswagen. Der europäische Automobilverband ACEA erwartet, dass der aktuelle Chipvorrat in der Autoindustrie nur wenige Wochen ausreichen wird.

Immer klarer zeichnet sich ab, dass eine grundsätzliche Lösung für den Chipmangel nur auf politischer Ebene gefunden werden kann. Die niederländische Regierung habe die Kontrolle über den Chiphersteller aus Furcht vor der Zerschlagung des Unternehmens durch den chinesischen Eigentümer übernommen, berichtet nun die Nachrichtenagentur Reuters unter Bezug auf mehrere Personen, die mit den Vorgängen vertraut sind. Demnach habe der chinesische Nexperia-Chef Zhang Xuezheng geplant, 40 Prozent der Belegschaft in Europa zu entlassen. Als Nächstes sei die Verlagerung von Anlagen aus dem Hamburger Werk geplant gewesen, berichtet Reuters.

Die Autoindustrie ist extrem stark betroffen

Zunächst war das harte Einschreiten der Niederlande, das von China mit einem Exportverbot für Nexperia-Chips beantwortet wurde, mit einem vergleichsweise harmlosen Fehlverhalten des Nexperia-Chefs begründet worden. Zudem gab es Berichte, wonach die USA ihren Einfluss geltend gemacht haben, die ihrerseits mit China einen Konflikt um Chips austragen.

Mehr als 6000 automobiltaugliche Produkte: Blick auf Halbleiter des Chip-Herstellers Nexperia
Mehr als 6000 automobiltaugliche Produkte: Blick auf Halbleiter des Chip-Herstellers NexperiaDaniel Pilar

Das dürfte auch Thema sein, wenn US-Präsident Donald Trump und der chinesische Staatschef Xi Jinping sich diese Woche treffen. Parallel dazu gibt es laut der Nachrichtenagentur Bloomberg Gespräche zwischen der EU und China über eine vorübergehende Exporterlaubnis, um den Nachschub zu sichern, bis eine längerfristige Lösung ausgehandelt sei. Die Autoindustrie ist extrem stark betroffen, weil hier der Bedarf besonders groß ist. Während in einem Auto bis zu 500 Chips von Nexperia stecken, sind es in einem Handy acht. Grob die Hälfte des Geschäfts entfällt auf die Autoindustrie.

Spezialisiert ist das Unternehmen, das einst aus dem Philips-Konzern herausgelöst wurde, auf diskrete Halbleiter. Das sind winzige Teilchen, die oft nur aus einem einzigen Chip bestehen, auf dem nur eine einzige Funktion implementiert ist, sodass unter bestimmten Bedingungen eine bestimmte Menge Strom fließt. Solche Standardchips sind die Grundbausteine für vieles. Das Anwendungsspektrum reicht von der Beleuchtung von Schaltern oder Displays über Regensensoren bis hin zur Strom- und Leistungsregelung in der Klimaanlage oder dem Notbremsassistenten. Die kleinsten Bauteile sind nur so groß wie ein Staubkorn und kaum sichtbar, obwohl sie schon zu integrierten Schaltungspaketen (ICs) verpackt sind.

„Nexperia ist der letzte verbliebene Hersteller von essenziellen Halbleitern in Europa“

Hergestellt werden diese Grundelemente im Nexperia-Werk Hamburg, 100 Milliarden Stück sind es im Jahr. „Dass es Nexperia in Hamburg gibt, ist Teil der Resilienzstrategie in Sachen Chips“, erklärte im Sommer Nexperia-Vorstand Achim Kempe im Gespräch mit der F.A.Z.: „Nexperia ist der letzte verbliebene Hersteller von essenziellen Halbleitern in Europa.“

Jetzt zeigt sich, dass die Resilienz brüchig ist. Denn in Hamburg werden zwar die Chips selbst hergestellt, indem auf kreisrunden dünnen Siliziumscheiben in vielen Schritten aus Belichten, Ätzen und Dotieren hauchfeine dreidimensionale Strukturen aufgetragen werden. Bis zu 500.000 Chips entstehen so auf einer einzigen Wafer-Scheibe im Durchmesser von 20 Zentimetern.

Der nächste Schritt, das sogenannte Packaging, findet aber schon nicht mehr in Hamburg statt. Dabei wird der Wafer mit hochfeinen Diamantwerkzeugen zerschnitten, und die einzelnen Chips werden je nach Anwendung in bestimmten Kombinationen zu einer Struktur verklebt und in ein Miniaturgehäuse eingekapselt. Diese relativ arbeitsintensiven Schritte werden großteils im chinesischen Dongguan erledigt. Und der Export von dort wird jetzt blockiert.

Mehr als 6000 automobiltaugliche Produkte preist Nexperia auf seiner Website an

Dass Nexperia schon Packaging-Werke in Malaysia und auf den Philippinen eröffnet hat, verhindert jetzt immerhin, dass die Vorräte in der Industrie allzu schnell schwinden. Die Volkswagen-Manager haben gleichwohl alle Hebel in Bewegung gesetzt, um rechtzeitig genügend Chips aufzutreiben – und zumindest für die Autoproduktion in den nächsten Tagen reicht der Vorrat nun. Die Kontakte, die im Zuge der vorigen Chipmangel-Krise während der Corona-Pandemie geknüpft wurden, werden nun reaktiviert. Die Beschaffungsmanager, teils auch die Vorstandschefs aus der Autobranche waren damals persönlich zu Bittstellern bei der Nexperia-Spitze geworden, selbst wenn es gar keine direkte Kundenbeziehung gab.

Einstweilen behilft man sich auch mit Chips, die bei Händlern und Brokern ergattert werden, zu stark erhöhten Preisen. Doch: Passen Chips, die eigentlich für die Heizungssteuerung gedacht waren, für eine Waschmaschine oder einen Roboter so einfach in einen Volkswagen oder einen Mercedes? Im Prinzip ist das so. Zwar hängt im Fahrzeugbau alles von der sogenannten Homologation ab. Dabei wird detailliert überprüft, ob die Systeme im Fahrzeug die geltenden Sicherheits- und Umweltstandards erfüllen, und zwar auch bei Hitze und Starkregen, bei Dauerbelastung oder Frontalaufprall.

Blick in den Reinraum des Chip-Herstellers Nexperia in Hamburg am 03.05.2024.
Blick in den Reinraum des Chip-Herstellers Nexperia in Hamburg am 03.05.2024.Daniel Pilar

Mehr als 6000 automobiltaugliche Produkte preist Nexperia auf seiner Website an. Die Produktpalette kann verglichen werden mit dem Angebot eines Schraubenhändlers. Viele verschiedene Arten können in vielen völlig unterschiedlichen Anwendungen eingesetzt werden. Viele müssen einfach billig, praktisch und verfügbar sein, manche von ihnen müssen extremen Situationen standhalten.

Entsprechend gilt für viele Standardchips, dass sie flexibel eingesetzt werden können, erklärt ein VW-Sprecher auf Nachfrage. Sie stecken in Bauteilen, die eher dem Komfort dienen, wie etwa dem Regensensor, aber eben auch in einem Schalter, der fürs Öffnen der Tür nach einem Unfall verantwortlich ist. Durch das Verschieben der Bedarfe innerhalb des Fahrzeugs verschafft Volkswagen sich die Möglichkeit, Standardchips von bisher fremden Lieferanten für unkritische Anwendungen einsetzen zu können.

Eine einfache Lösung ist auch das nicht, denn sie basiert auf der Kooperationsbereitschaft quer durch die Branche. Die Lieferketten in der Autobranche gehen über ein Dutzend Stufen oder mehr und werden mit jeder Stufe unübersichtlicher für den Autohersteller. So werden die gut hundert Fabriken von Volkswagen beispielsweise von 60.000 direkten Zulieferern beliefert. Diese Unternehmen haben ihrerseits oft Tausende Lieferanten und diese ebenfalls und so weiter. Insgesamt sind es mehr als eine Million Unternehmen, die ihre Produkte für die Autos und Lastwagen der verschiedenen Konzernmarken liefern. Manche bei Volkswagen schätzen sogar, es könnten letztlich über zwei Millionen Zulieferer sein.