
Ausgerechnet ein Gärtner, der Franzose Joseph Monier, gilt als Erfinder der Stahlbetons, in den Anfängen Mitte des 19. Jahrhunderts Eisenbeton genannt. Pflanzkästen aus Zement verstärkte er mit Draht und Eisen, damit sie beim Transport nicht brechen beziehungsweise kräftigeren Wurzeln widerstehen konnten. Die deutschen Ingenieure von Wayss & Freytag kauften Moniers Patente und trieben von 1875 an die Technologie voran, kombinierten die Zugfestigkeit von Eisen mit der Druckfestigkeit von Beton. Ideal für Brücken, Kanalisation, Gewölbe.
Dann sprang die Begeisterung auch auf den Hochbau über, der universell einsetzbare Baustoff trat seinen Siegeszug an. Auch das Habsburgerreich wurde von dieser Begeisterung angesteckt. 1891/92 wurden in einem Steinbruch in Purkersdorf nahe Wien fünf verschiedene Gewölbetypen getestet – Bruchstein, Ziegel, Eisen, Stampfbeton und Moniergewölbe. Letzteres schneidet in der Dokumentation des einflussreichen Österreichischen Ingenieurs- und Architekten-Vereins am besten ab. In der Folge kommt bei den anstehenden großen Infrastrukturprojekten zum Einsatz – der Regulierung des Wienflusses, beim Donaukanal, der Stadtbahn. Bald zieht der private Sektor nach, ein Bauboom erfasst die Stadt, verändert ihr Bild nachhaltig.

Wie sehr, das zeigt die von Andreas Nierhaus und Eva-Maria Orosz eingerichtete Ausstellung „Eisenbeton. Anatomie einer Metropole“, die mit Röntgenblick ins Innere von bekannten Gebäuden schaut. Neben dem Loos-Haus sind das unter anderem die Postsparkasse von Otto Wagner, das Geschäftshaus Goldmann & Salatsch, der Mariahilfer Zentralpalast, Nestroy- und der Trattnerhof, Urania, Schwedenkino, Gerngross, das Zacherlhaus, die Vorwärts-Druckerei, Jože Plečniks Heilig-Geist-Kirche.
Die Vorgängerbauten aus dem 17. und 18. Jahrhundert werden abgeräumt und durch Neubauten ersetzt, die auf der gleichen Grundfläche deutlich mehr Platz bieten. Da zudem die Straßen verbreitert werden müssen, wachsen die Häuser in die Höhe. Der Großteil der Bautätigkeit geschieht innerhalb des Gürtels, die Innere Stadt wird umgekrempelt, ebenso die Mariahilfer Straße und der 7. Bezirk. Wien ist in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine riesige Baustelle. Besonders im ersten Bezirk wird Wohnraum von Mischnutzung abgelöst, Warenhäuser, Gastronomie, Büros, Theater und Kino, alles findet Platz in einem Gebäude.

Der Eisenbeton ermöglicht eine neue, konstruktiv auf das Wesentliche reduzierte Bautypologie, und eine Architektursprache, in der Außenmauern keine tragende Rolle mehr spielen müssen. Ein schlankes Skelett für großzügige, variable Räume ohne Stützen, betonierte Decken, schmale Unterzüge, große Wandöffnungen, dito Spannweiten. Von außen ist die neuartige Bauweise nicht zu erkennen, je nach Geschmack der Bauherren kommen die Fassaden spätbarock, sezessionistisch, kubistisch, mit Steinplatten verkleidet, verglast oder verputzt daher. Auch das Kunsthandwerk geht mit der Zeit, die Wiener Werkstätte bringt von 1904 an Vasen, Körbe und Schalen und aus lackiertem Stahlblech auf den Markt – mit quadratischem Lochgitter als abstrahiertem Ornament.
Ins Rollen gebracht hat die Ausstellung erst ein zunächst privat vorangetriebenes Langzeitprojekt des Architekturhistorikers und Publizisten Otto Kapfinger, der nach eigenen Angaben seit 2018 mehr als 22.000 Arbeitsstunden in das Projekt investiert hat. Der von ihm herausgegebene, dem Thema angemessen schwere Band „Anatomie einer Metropole“ (Birkhäuser Verlag) geht weit über die Ausstellung hinaus, in deren Zentrum Fragen von Statik und Konstruktion stehen. Studenten der Technischen Universität haben zwölf Karton-Modelle von Eisenbeton-Häusern gebaut, die in der Mitte der Ausstellung stehen und Grundrisse und Bauhistorie beleuchten.

Die auf gut 300 Quadratmeter zusammengepferchte Präsentation verschenkt die Wucht des Themas. Von den riesigen schwarzen Stahlträgern der Dachetage ist kaum etwas zu sehen, die übliche Flachware in Vitrinen, Plakate, Fotografien und Gemälde an den Wänden. Nur das Fragment eines einst drei Tonnen schweren Mosaiks aus der monumentalen Kassenhalle des 1965 abgerissenen Dianabades gibt wenigstens eine Vorstellung von der Grandezza der Epoche: Der auch nach heutigen Begriffen riesenhafte Palast an der Donau bot Schwimmhallen, Saunen, Spa, Gymnastik. Luxus zu hohen Eintrittspreisen.
Viele der Bauten aus den Jahren 1890 bis 1914 werden heute noch genutzt, aber nicht alle in der ursprünglichen Art und Weise. So wie im Fall der ehemaligen Zentrale des Wiener Bankvereins am Schottentor, entworfen von Alexander Neumann und Ernst von Gotthilf. Der Prachtbau war 1912, dem Jahr seiner Fertigstellung, ein technisches Schmankerl. Er verfügte über eine eingebaute Frischluftmaschine, eine Staubsauganlage sowie über eine 4,6 Kilometer langes Rohrpostsystem mit 42 Stationen. Vor acht Jahren zog die letzte Bank aus, die pompöse Kassenhalle besetzt heute ein Supermarkt.
So stellt die Ausstellung am Ende Bezüge zur Gegenwart her, und sie tut es, ohne die Pioniere des Eisenbetonzeitalters als Buhmänner vorzuführen – und das in Zeiten, in denen der Stahlbeton als Klimakiller identifiziert ist. Ihre Risikobereitschaft und ihre Begeisterung haben eine verdichtete Stadt erschaffen, die sich heute großer Beliebtheit erfreut. Das liefert Anschauung für die Gegenwart: Gerade weil Österreich eine Hochburg von Landschaftsverbrauch und der Versiegelungspraxis ist, wünscht man der Schau viele Besucher.
Eisenbeton. Anatomie einer Metropole. Wien-Museum, Wien. Bis 28. September. Der von Otto Kapfinger herausgegebene Begleitband „Anatomie einer Metropole. Bauen mit Eisenbeton in Wien 1890–1914“ (Birkhäuser Verlag) kostet 49 Euro.
