
Immer wieder steht man in der Ausstellung „Many Worlds Over“ von Ayoung Kim plötzlich sich selbst gegenüber. Die südkoreanische Künstlerin ließ die vier Räume, die ihr im Hamburger Bahnhof für ihre erste Solo-Ausstellung in Deutschland zur Verfügung stehen, zu einem bildschirmblauen Irrgarten umbauen, in dem Spiegel, glänzend reflektierende Flächen, Monitore und Videoprojektionen nicht nur die Raumwahrnehmung verwirren und die ganze Ausstellung viel größer erscheinen lassen, als sie eigentlich ist.
Mehr als einmal will man durch einen scheinbaren Durchgang in den nächsten Raum gehen, der sich letztlich nur als Reflexion des Raums erweist, in dem man sich gerade befindet.
So materialisiert die 46-jährige Künstlerin im physischen Raum, was in ihrem Werkzyklus „Delivery Dancer“ zunächst als digitales Flackern existiert: Doppelgänger, Paralleluniversen, alternative Wirklichkeiten.
In der Arbeit beschäftigen sich zwei teilweise computergenerierte Videos, ein Computerspiel und eine Smartphone-App – umgeben von einer Reihe von Installationen und Wandarbeiten – mit der Lieferfahrerin Ernst Mo (Jang Seo-kyung). Diese gleitet in den beiden jeweils fast halbstündigen Videos mit dem Motorrad durch ein hypermodernes Seoul, um mysteriöse Koffer zuzustellen.
Von einer KI-gesteuerte App durch die Stadt gescheucht
Was genau sie da in gesichtslosen High-Tech-Verwaltungsgebäuden in einer schwarzen Kunststoffbox abliefert, wird nie so ganz klar. Blutproben? Geheimdokumente? Datenträger? Aber das ist auch nicht so wichtig, denn eigentlich geht es in der Arbeit um die KI-gesteuerte App „Dancemaster“, die Ernst Mo durch die Großstadt dirigiert wie einst das Master Control Program die virtuellen Motorradfahrer auf ihren Light Cycles im Science-Fiction-Klassiker „Tron“, zu dem die visuelle Gestaltung von Kims Arbeit mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit hat. (Auch andere SciFi- und Anime-Filme wie „Matrix“, „Speed Racer“ oder „Ghost in the Shell“ haben hier offensichtlich Pate gestanden.)
Ayoung Kim: „Many Worlds Over“ ist noch bis zum 20. Juli im Hamburger Bahnhof zu sehen.
Der „Dancemaster“ zwiebelt seine „Dancer“, also die Lieferanten, zu immer neuen Höchstleistungen und quengelt automatisiert bei Verspätungen oder Umwegen. „Your delivery time is running late. Please hurry!“ ermahnt eine App auf einem Smartphone, das in der Installation aus der Wand ragt. Auch im Videospiel, in dem man einen Liefer-„Dancer“ durch verschiedene Gamelevel steuert, geht sofort der Alarm los, wenn man vom kürzesten Weg zwischen zwei Punkten abkommt.
Der permanenten Überwachung und dem algorithmischen Gedrängel entzieht sich Ernst Mo immer wieder durch das Abtauchen in Portals, die sie von einer Realität in eine andere entfliehen lassen.
Der permanenten Überwachung und dem algorithmischen Gedrängel entzieht sich Ernst Mo immer wieder durch das Abtauchen in „Portals“, die sie von einer Realität in eine andere entfliehen lassen. Ein Glitch-Geflacker, und plötzlich findet sich unsere Heldin in einer anderen Version ihrer Welt wieder, wo sie immer wieder auf ihre Doppelgängerin En Storm trifft, –gleichzeitig ein Anagramm ihres eigenen Namens wie auch des Wortes „Monster“.
Kuratorin Charlotte Knaup versucht dieses Szenario im Katalog als eine Kritik an der Ausbeutung im Plattform-Kapitalismus zu interpretieren: „Die Gamifizierung der Gig Economy in ‚Delivery Dancer‘ kann als Extrapolation von Liefer-Apps wie UberEats gelesen werden, die auch in Berlin und in vielen anderen Städten auf der Welt an Popularität gewonnen haben.“
Fernab der Realität von Lieferfahrern
Doch die Fahrer, die inzwischen rund um den Globus für Hungerlöhne Junk Food durch die Metropolen bugsieren, sind keine glamourösen Kreaturen mit Modelqualitäten, die mit schicken Motorrädern durch klinisch saubere, beleuchtete Tunnel gleiten und dabei farbige Speedlines hinter sich zurücklassen, wie in Ayoung Kims Cinematic Universe.
Es sind die Ärmsten der Armen, oft Elendsmigranten, die von ihren Auftraggebern und von ihren Kunden nicht selten wie der letzte Dreck behandelt werden. Für diese Jammervollen tun sich auch keine flackernden Portale auf, auf deren anderen Seite sie sich beim Tête-à-Tête mit sich selbst verlustieren können.
Auch dieses Hin und Her zwischen verschiedenen Realitätsoptionen wird im Katalog als eine Art subversiver Akt dargestellt: „In gleichem Zuge, indem (Kim) andere mögliche Welten in endloser Zahl einführt und sie in die real gegebene einsickern lässt, stellt sie die Unvermeidlichkeit unserer modernen kapitalistischen Logik infrage: Wenn unendlich viele andere Welten möglich sind, kann die Logik, nach der unsere Realität funktioniert, unmöglich die einzige sein, auf deren Grundlage wir existieren können.“
Tatsächlich sind die verschiedenen Realitäten, zwischen denen Ernst Mo hin- und herswitcht, allerdings von trostloser Ähnlichkeit. Man vergleiche das nur mit den unendlichen Möglichkeiten des Multiversums, in dem sich Michelle Yeoh in dem Kultfilm „Everything Everywhere All At Once“ wiederfindet. Da kann man Besitzerin einer Wäscherei sein oder Kung-Fu-Meisterin oder Chefköchin oder Opernsängerin oder ein Stein oder jemand, der statt Fingern Würstchen hat, und die Polizei löst sich eine Realität weiter einfach in Konfetti auf.
In den vielen Welten von Ayoung Kim knallt man eher – wie in dem Song „Always crashing in the same car“ von David Bowie – immer wieder in das gleiche Auto – und dann ist das sogar noch das eigene!