Ausschreitungen in Amsterdam: „Die Männer forderten: Ihr müsst uns eure Pässe zeigen“

Nach den Ausschreitungen in Amsterdam warten israelische Fußballfans noch immer darauf, das Land zu verlassen. Der jüdische Sportverband Maccabi kümmert sich um sie. Hier berichtet eine Mitarbeiterin, wie brutal die Angreifer vorgegangen sind.

Als sie ans Telefon geht, ist Femmetje de Wind gerade auf dem Heimweg. Den ganzen Tag, sagt sie, habe sie in einem „safe space“ von Maccabi NL verbracht, dem jüdischen Sportverband in den Niederlanden. Dort warten israelische Fußballfans nach den Attacken in der Nacht zum Freitag darauf, das Land zu verlassen. Femmetje de Wind ist Journalistin und Pressesprecherin bei Maccabi NL. Sie hat sich von den Fans schildern lassen, wie sie die Angriffe erlebt haben.

WELT: Was wissen Sie über die Ausschreitungen, zu denen es nach dem Spiel von Ajax Amsterdam gegen Maccabi Tel Aviv kam?

Femmetje de Wind: Ich war letzte Nacht nicht vor Ort, aber ich habe einige Zeugen dazu interviewt. Das Bild, das ich bekomme, ist folgendes: Das waren nicht zwei Gruppen von Fußballfans, die gegeneinander gekämpft haben. Es waren geplante Aktionen. Einen der Leute, mit denen ich gesprochen habe, hat es an eine Guerilla-Aktion erinnert.

WELT: Was haben Ihnen die Menschen erzählt?

De Wind: Ich habe zum Beispiel mit einem Israeli gesprochen, der mit seinem Vater und seinem Bruder hierherkam. Er berichtete: „Für mich war es ein echter Schock, als ich das Stadion verließ. Wir fuhren mit der Metro zurück zum Hauptbahnhof, und als wir dort ankamen, hörte ich schon Feuerwerk und fragte mich: Was ist hier los?“ Die Gruppe – insgesamt fünf Leute – lief über den Bürgersteig in Richtung ihres Hotels. In diesem Moment kam ein Auto und fuhr sie an.

WELT: Und dann?

De Wind: Der Israeli, den ich interviewt habe, kommt ursprünglich aus dem Iran, er ist ein iranischer Jude. Er sagte, er konnte hören, dass auch die Angreifer aus dem Iran kamen. Er geht davon aus, dass es Muslime waren. Die Angreifer fingen an, sie zu schlagen und zu treten. Sie hatten Baseballschläger und Eisenstangen, sie waren gut vorbereitet. Wie gesagt, der Vater meines Gesprächspartners war dabei, ein älterer Mann, fast 70. Er stürzte zu Boden. Dann entschied sich die Gruppe zu flüchten.

WELT: Gab es keine Polizisten, die eingreifen konnten?

De Wind: In der Nähe standen Polizisten, aber sie hätten nicht geholfen, sagte der Zeuge. Also rannten er und seine Leute weg. Schließlich schafften sie es zum Hotel, aber sie hatten wirklich Angst. Das Hotel befand sich im Westen von Amsterdam, wo viele Menschen mit marokkanischem oder türkischem Hintergrund leben.

WELT: Was machte die Gruppe dann?

De Wind: Sie schlossen sich in ihrem Zimmer ein, trauten sich nicht, rauszugehen. Sie schliefen die ganze Nacht nicht, gingen nicht zum Frühstück. Der Vater war verletzt, aber sie trauten sich nicht, ins Krankenhaus zu gehen. Am Morgen nahmen sie dann Kontakt zu Maccabi NL auf. Der Verein eröffnete einen „safe space“, von dem aus Menschen zum Flughafen gebracht werden konnten. Ein freiwilliger Fahrer holte die Gruppe ab und brachte sie dorthin. Der Vater wurde medizinisch behandelt, und jetzt versuchen sie, einen Platz in einem Flugzeug zu bekommen. Sie sind also immer noch an einem sicheren Ort, den Maccabi organisiert hat.

WELT: Wie ist aktuell die Situation dort?

De Wind: Wir waren den ganzen Tag da, ich fahre gerade erst nach Hause. Es sind viele Israelis dort, ich glaube, ungefähr 100 kamen rein. Menschen, die Zuflucht suchten und in ihren Hotels nicht mehr sicher waren.

WELT: Mit welchen anderen Zeugen haben Sie gesprochen?

De Wind: Mit einem Niederländer, der sich das Spiel im Stadion ansah und danach heimfuhr. Als er zu Hause ankam, schaute er sich die Situation in den sozialen Netzwerken an. Auf Instagram sah er Israelis, die niedergeschlagen und gejagt wurden. Es war ein Uhr in der Nacht, als er entschied, dass er etwas tun müsse. Also sprang er in sein Auto, fuhr in die Stadt und suchte nach Israelis, um ihnen zu helfen.

„Es war nur 100 Meter die Straße runter, aber er traute sich nicht, dorthin zu gehen“

WELT: Was genau machte er?

De Wind: Er fuhr die ganze Nacht, um Menschen an sichere Orte zu bringen. Er sagte, dass er 30 Leute transportiert habe. Nicht nur junge Männer, auch eine Frau und ein Kind, die sich nicht trauten, ihr Hotel zu betreten, weil eine Gruppe Männer davorstand und auf sie wartete.

WELT: Die standen dort, weil sie andere Israelis zu ihrem Hotel verfolgt hatten?

De Wind: Genau. Der Fahrer erzählte mir von einem Israeli, der mit einem anderen zu dessen Hotel flüchtete. Sein eigenes Hotel war nur 100 Meter entfernt. Er buchte einen frühen Flug zurück nach Tel Aviv, musste aber noch seinen Koffer aus seinem Hotel holen – es war nur 100 Meter die Straße runter, aber er traute sich nicht, dorthin zu gehen. Deshalb brachte der Fahrer ihn zum Hotel. Dort stand schon eine Gruppe von Menschen und wartete. Sie konnten nicht reingehen, also riefen sie die Polizei, die ihnen schließlich half, das Hotel zu betreten und von dort zur Maccabi-Zentrale zu fahren.

WELT: Das hört sich wie ein Alptraum an.

De Wind: Ich habe mit einem anderen Mann gesprochen, der Leute aus dem Stadtzentrum abholte und in Sicherheit brachte. Er erzählte von drei Israelis, die nach dem Spiel in ein Café gingen. Dort sei eine Gruppe von Menschen mit nordafrikanischem Hintergrund gewesen, die auf sie zukam und sie fragte, ob sie Israelis seien. Die Männer forderten: „Ihr müsst uns eure Pässe zeigen.“ Als die Israelis sich weigerten, das zu tun, zogen die Männer sie nach draußen und schlugen sie zusammen. Einem von ihnen wurden Zähne ausgeschlagen, er musste ins Krankenhaus.

WELT: Politiker verurteilen die Angriffe mit Floskeln wie: „Antisemitismus hat in Europa keinen Platz.“ Haben Sie das Gefühl, dass auch Konsequenzen gezogen werden?

De Wind: In der Vergangenheit ist die Bürgermeisterin von Amsterdam sehr nachsichtig mit dem Versammlungsrecht umgegangen, sie hat sogar eine große Demo in der Nähe des Holocaust-Museums zugelassen, als dieses eröffnet wurde. Jetzt zieht sie Konsequenzen und hat Demonstrationen dieses Wochenende verboten. Ich sehe aber, dass die jüdische Community in der Stadt sehr wütend ist, weil zu wenig unternommen wurde, um den Antisemitismus auf der Straße zu stoppen. Die Politik versucht, mit beiden Seiten zu reden – doch in diesem Fall gibt es nicht zwei Seiten, die gleichermaßen für Probleme sorgen. Die jüdische Community attackiert niemanden.

WELT: Wie gehen Politiker damit um?

De Wind: Kaum jemand traut sich, das anzusprechen. Die Einzigen, die es tun, sind die Rechtsextremen. Sie benutzen das Thema, um ihre Ideologie voranzutreiben, was auch nicht gut ist. Wir hoffen, dass auch moderate und linke Politiker aufstehen und diese Angriffe als das verurteilen, was sie sind: Wir haben vergangene Nacht ein Pogrom erlebt. Und die jüdische Community hat keine Lust mehr auf Ausreden.