Eigentlich sollte die Grabung schon bald eingestellt werden. Der Häuserblock in Pompeji war so weit untersucht, dass die Konturen einer großen Villa sichtbar wurden, deren Räume sich wie üblich auf einen Innenhof hin ausrichteten. Ungewöhnlich groß allerdings war ein Saal an der Nordseite des Hofs, der im bislang ausgegrabenen Teil der verschütteten Stadt unter den Tausenden zutage geförderten Räumen nur drei Entsprechungen hat. Schicht für Schicht wurde abgetragen, langsam kamen neben Säulen auch die höchsten Partien der Wandmalerei zum Vorschein – sie zeigen „Tiere, teils tot, teils lebendig: essbare Vögel, ein am Bauch aufgeschlitztes Wildschwein, ein Reh, eine Ziege, drei quicklebendige Hühner, aufgehängt zwischen gemalten Säulen, die mit den echten Säulen vor der Wand auf Linie sind – alles in bunten Farben und erstaunlich realistisch gemalt“.
So erinnert sich Gabriel Zuchtriegel, seit 2021 Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji, an die Entdeckung des Saals um die Jahreswende 2024/25. Die Begeisterung teilt sich mit, allein das Wort „quicklebendig“ ruft in Erinnerung, warum die Stadt ihre Besucher und die Leser der unzähligen ihr gewidmeten Bildbände nachhaltig fasziniert: Es ist die Vorstellung, unmittelbar am jäh angehaltenen Alltag einer versunkenen Zeit teilzuhaben, auch wenn nicht nur der Auswurf des Vesuvs im Herbst 79 nach Christus in Pompeji entsetzlich gewütet hat, sondern auch die Ausgrabungs- und Besuchergeschichte seither.
Zum Vorschein kamen eine Bäckerei und ein luxuriöser Spa-Bereich
Das hält bis heute an und führt zu massiven Verlusten an der Substanz der Stadt: „In 13.000 Räumen arbeiten Wind und Wetter, Feuchtigkeit, Pflanzen- und Pilzbefall gegen uns“, schreibt Zuchtriegel in seinem Buch „Pompejis letzter Sommer“. Und findet zu dem beherzigenswerten Satz: „Wir sollten immer nur so viel ausgraben, wie wir auch zu bewahren imstande sind.“ Ein Drittel der Stadt ist bis heute unter einem Hügel begraben und wird es wohl noch sehr lange bleiben.

Schon deshalb ist die Grabungskampagne der vergangenen Monate so besonders. Zum Vorschein kamen etwa eine Hausbäckerei samt einer kleinen Mühle oder ein luxuriöser privater Spa-Bereich, wie ihn sich nur die Allerreichsten leisten konnten. Spektakulär aber ist, was unterhalb der lebensechten Tiere auf den Wänden des Saals sichtbar wurde, nachdem die Steine aus den Tiefen des Vesuvs entfernt worden waren: ein Fries, der offenbar eine Initiationsszene zum Kult des Dionysos zeigt.
Für Zuchtriegels Vorhaben, seinem gefeierten Pompeji-Buch „Vom Zauber des Untergangs“ ein zweites über die antike Stadt folgen zu lassen, in dem er sich mit dem aufkommenden Christentum beschäftigt, hätte diese Entdeckung nicht günstiger kommen können. Die traditionsreiche Frage, warum ausgerechnet diese Religion eine derartige Erfolgsgeschichte schreiben konnte, bettet Zuchtriegel in einer Darstellung der pompejanischen Verhältnisse ein und greift für seine Argumentation erfreulich häufig auf Architektur, Kunst- und Alltagsgegenstände oder Wandkritzeleien zurück, die in der Stadt gefunden worden sind: „Pompeji zeigt uns nicht nur die Schönheit der antiken Welt, sondern auch ihre Risse und Schattenseiten. Und genau dort wird eine neue Form von Spiritualität fruchtbaren Boden finden, Wurzeln schlagen und aufblühen.“
Irgendjemand kritzelte etwas von Sodom und Gomorrha an eine Wand
Zuchtriegel entwickelt seine Erzählung von Verwandlung und Untergang der alten Götter und von der Etablierung eines neuen in sechs Kapiteln, gerahmt von einem Prolog und einem Epilog. Das Bild, das er zeichnet, geht von den sozialen Verhältnissen in einer Stadt aus, die sich – wie viele andere römische Siedlungen auch – deutlich ihren landwirtschaftlich geprägten Wurzeln entfremdet hat und von starken sozialen Unterschieden geprägt ist, was sich auch an den Bauten ablesen lässt und in jüngster Zeit verstärkt in die Darstellung der versunkenen Stadt eingegangen ist. Im vergangenen Jahr widmete sich eine groß angelegte Ausstellung auf dem Gelände Pompejis den im Schatten der Reichen lebenden Unterschichten.

Zuchtriegel erinnert an das Erdbeben, das Pompeji im Jahr 62 nach Christus erschütterte, an die vielen Schäden, die siebzehn Jahre später beim Ausbruch des Vesuvs noch immer nicht vollständig behoben worden waren und daher bis heute konserviert sind. Viele der prächtigen Villen standen leer, irgendjemand kritzelte etwas von Sodom und Gomorrha an eine Wand, Zuchtriegel konstatiert ein „spirituelles Beben“, das zuerst die Unterschicht erreichte, und trägt dafür viele Indizien zusammen.
Das betrifft naturgemäß die in Pompeji verbreiteten Religionen, zu denen am Ende der Stadtgeschichte auch das Christentum gehörte: Gegenüber dem berühmten Lupanar mit seinen derben Sprüchen und erotischen Wandbildern fand sich ein Haus und daran eine – inzwischen verblasste – Inschrift, die als Hinweis auf einen gewissen Bovios und seine Zugehörigkeit zu den Christen gedeutet wird.
Die Götter hatten die Alltagswelt der kleinen Leute schon verlassen
Damals hatten die früher in der Region verehrten Götter bereits eine Metamorphose durchgemacht, die Zuchtriegel auch als eine Entzauberung deutet. Waren ihre Kultstätten zuvor in der Natur zu finden, an bestimmten Gewässern, Bergen oder Wäldern, wurden ihnen seit etwa der Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus mehr und mehr Tempel in der Stadt errichtet, während im Gegenzug die Wildnis urbar gemacht wurde. Zugleich zeigte sich die römische Gesellschaft bekanntlich offen für neue Kulte aus den eroberten Gebieten, solange deren Anhänger umgekehrt die bisherigen Götter respektierten, also keinen monotheistischen Anspruch erhoben.
Präsent waren Götter wie Diana oder Dionysos gleichwohl in Pompeji, aber – zusammen mit entsprechenden Landschaften – als nostalgische Erinnerung. „Die Götter wohnten zwar noch in den Tempeln der Stadt, aber die Alltagswelt der kleinen Leute hatten sie schon verlassen“, schreibt Zuchtriegel, während sich in den Prunkvillen wunderbare Wandbilder mit mythischen Szenen finden, in denen es oft um die Jagd geht – Sinnbild verlorener Verbundenheit mit der Natur.
Auch die jetzt entdeckten Initiationsbilder im „Haus des Thiasos“ stehen in diesem Zusammenhang und spiegeln die vor 116 Jahren gefundenen Wandmalereien im „Haus der Mysterien“ wider, wie Zuchtriegel einleuchtend darlegt. In der Engführung der beiden Bilderzyklen zeigt er, warum schließlich der dort gezeigte Kult auf sehr unterschiedliche Lebensentwürfe hinweist und wie das Christentum an vorhandene religiöse Vorstellungen anknüpfte. Dass die Christen das Ziel einer inneren Befreiung mit früheren Religionen teilen und zugleich auf ganz anderen Wegen zu erreichen versuchen, steht am Ende dieses glänzend erzählten und überaus kundigen Buches.
Gabriel Zuchtriegel: „Pompejis letzter Sommer“. Als die Götter die Welt verließen. Propyläen Verlag, Berlin 2025. 320 S., geb., 33,– €.
