Wie es riecht! Feuchtes Totholz, Blätter, Moos, Pilze, gesunder Moder. Dazu die Stille. Also, relative Stille. Denn die Vögel zwitschern hier ganz schön laut. Und das Rascheln des Herbstlaubs, das die Schritte abfedert, ist auch nicht zu überhören.
Beim Betreten des Emmauswäldchens in Berlin-Neukölln taucht man ein in eine abgeschlossene, Geborgenheit verströmende Natur. Von den baumwipfelüberdachten Wegen des seit den 1980er Jahren nicht mehr als Friedhof genutzten Emmauskirchhofs – in Rufweite der Hermannstraße gelegen – kommt man schnell ab, wandelt auf efeuberankten Trampelpfaden und erwartet, hinter der nächsten Ecke ein Dornröschenschloss zu entdecken. Und das in einem gerade vier Hektar großen Wald – allerdings: dem größten Neuköllns.
Doch: ginge es nach dem Bauträger Buwog entstünden genau hier bald 290 Luxus-Eigentumswohnungen nebst bodenversiegelnder Tiefgarage. Dabei stehen laut der Initiative „Emmauswald bleibt!“ in unmittelbarer Nachbarschaft schon zahlreiche Miet- und Kaufwohnungen leer, weil die Leute aus Neukölln sich die Preise gar nicht leisten können.
Wichtig für Mensch, Tier und Klima
Um die drohende Rodung des liebevoll „Emmi“ genannten Waldes zu verhindern, setzt sich „Emmauswald bleibt“ seit 2022 für den Erhalt des artenreichen Biotops ein. Es ist nicht nur ein Rückzugsort für Mensch und Tier, sondern trägt wesentlich dazu bei, das Klima im Stadtbezirk Neukölln erträglich zu halten – vor allem in den immer häufigeren tropischen Sommern.
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Martin Hossbach
„Wie kann ich diese Initiative unterstützen?“, fragte sich auch Martin Hossbach. Der 40-Jährige wohnt direkt am Emmi. Hossbach arbeitet seit Mitte der 1990er Jahre in der Musikindustrie. Also, keine Frage: „Mit Musik!“ Nach einer Ausbildung bei einem Label, einer Phase als Redakteur des Musikmagazins Spex und als Mitbegründer und Co-Kurator des Festivals „Pop-Kultur“ in Berlin ist sein Adressbuch gefüllt mit Musikschaffenden. Und, wie sich herausgestellt hat, ist auch ihnen an bezahlbarem Wohnraum gelegen, der zudem vereinbar ist mit unseren Klimazielen.
Von den 500 Angeschriebenen haben 57 geantwortet und einen Song für die Compilation „Emmi Aid“ beigesteuert. Die Namensverwandtschaft zu Bob Geldorfs „Live Aid“-Projekt ist schiere Absicht, die Sache ist groß gedacht. So wie der irische Popstar hat auch Hossbach gerufen und alle sind gekommen.
57 Geschenke an den Wald
Die „57 Geschenke an den Wald“, wie Hossbach die Songsammlung nennt, sind tatsächlich Geschenke an die Welt. Hossbachs einzige Bedingung war es, dass die Schenkung bisher unveröffentlicht sein musste. Die Künstler*innen konnten extra zum Anlass einen neuen Song komponieren oder ihre Festplatten nach passendem Material durchforsten.
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Eva Pentel
Pet Shop Boy Neil Tennant hat sich als Erster zurückgemeldet und Hossbach einen Song aus dem Jahr 2012 vermacht, der in einer anderen Version nur auf einer B-Seite in Japan zu finden war. Aber so, wie auf „Emmi Aid“ zu hören, ist er in dieser Fassung unveröffentlicht. „The Way Through The Woods“ ist ein träumerisches Stück 50er-Jahre-Musical-Wasserballett-Pop. Nicht ohne Stolz berichtet Hossbach, dass die Zusage Tennants enorme Zugpferdfunktion hatte.
Der Kurator bringt das Kunststück fertig, die diversen musikalischen Genres und Schlagseiten zu einem mal schnell strudelnden, mal langsam fließenden Flow zu verquicken. Es gibt Protestsongs Marke „Direkt auf die Zwölf“, wie die Wandergitarren-Ode „Oh Emmaus“ von dem Berliner Alexander Winkelmann, sie ist dem Emmauswald direkt gewidmet. Und es gibt Stars, wie Bernard Sumner von New Order, der mit „Emmy“ extra einen Themensong komponiert hat: Northern Rock wie ein alter Freund.
Hossbach hatte sich gewünscht, dass Sumner den Namen des Waldes im Text künstlerisch verarbeitet. Für Sumner ist „Emmy“ ein globales Thema, er war von der Sache überzeugt, weil „genau derselbe Scheiß hier in Manchester auch passiert … Es ist einfach nur Gier unter dem Deckmantel der Allgemeinnützigkeit.“
Wer beim Hören von „Der letzte Kranich von Angermünde“ denkt, Gunter Gabriel sei mit von der Partie, hat sich getäuscht: Tocotronic hatten diese wunderbare Coverversion von Juliane Werding einst für Radio Eins aufgenommen und es für „Emmi Aid“ aus dem Archiv gehoben – dass der Schmachter von trauriger Aktualität ist, konnten sie nicht ahnen.
Karl der Käfer tanzt auch mit
Und es gibt weitere sinnstiftende Coverversionen: Die Jünger Emmaus feat. Der Endziffer 0 Chor beleben den 80er-Jahre-Waldschutzprotestsong „Karl der Käfer“ mit elektronischen Beats und der Frankfurter Houseproduzent Phillip Lauer modernisiert „The Forest“ von The Cure.
Alle Beteiligten erwähnen, wie wichtig gute Luft und Stille im Wald für ihr psychisches Wohlbefinden sind. So auch das Berliner Duo Alexander Hacke und Danielle di Picciotto, die mit „Emmaus Pastoral“ Joseph von Eichendorffs Gedicht „O Täler weit, o Höhen“ in ein Eastern-Desert-Ambient-Gewand gekleidet haben. Staubmantel inklusive.
Various Artists: „Emmi Aid“
Benefiz Compilation zur Initiative „Emmauswald bleibt!“ (Martin Hossbach)
15,99 Euro bei bandcamp und Apple, sowie kostenfrei auf allen gängigen Streaming-Plattformen. Alle Einnahmen gehen an die Initiative „Emmauswald bleibt!“
Schneider TMs Beitrag „The Present“ fließt wie eine Endmöräne durch die Gehörgange. Er fühlt sich verbunden mit den Bäumen, „denn wenn die verschwinden, sind wir auch bald weg“, denkt er. Ziemlich überraschend kommt „Uban“ von Mouse On Mars daher. Die Berliner Glitch-Spezialisten haben sich mit der kenianischen HipHop-Crew Ukoo Flani Mau Mau zusammengetan und gehen wortgewaltig mit pumpendem Hydraulikflow gegen die Abholzung vor.
Wie das Waldholz klingt
Den französischen Schlagzeuger Jean Baptiste Geoffroy hat Hossbach, der auch noch Winzer aus Leidenschaft ist, auf einer Weinmesse an der Loire kennengelernt. Geoffroy würde so manchem „Immobilienentwickler“ lieber die Beine abhacken, als den Bäumen die Stämme. Entsprechend furchteinflößend kommt „Matière Ligneuse sur Pied“ mit Auerochsengegnöre und Klanghölzern daher. Der englische House-Produzent Matthew Herbert schickte seinen Track „Treehouse“ mit der Bemerkung: „Ich hab da doch mal was mit Waldhölzern aufgenommen.“ Er verzaubert seine Fieldrecordings mit Bremsklotz-Flöten über Klöppelbeat.
Eine Entdeckung ist Kota No Uta. In „Little Forest“ lässt die Berliner Neo-Soul-Jazzerin zu Grillenzirpen und Vogelgezwitscher Feenwesen im Morgennebel über die Lichtung tänzeln. Entsprechend kurz ist das Hörvergnügen, das aber sogleich im Anschluss von Stefan Rusconi fortgeführt wird. Der in Berlin ansässige Schweizer Jazzpianist lässt die Feen mit Sirenengesang zum Nachmittagstee auf die Lichtung zurückkehren. Und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar wie bei Matthias Claudius.
Der Musiker und Autor Hendrick Otremba holt uns zurück in die Realität. Sein Gedicht „Silbersteinstraße – Insel im Sturm“ beschreibt treffend den urbanen Alltag um den Emmauswald herum, mit Ottonormalbürger:Innen, aber auch: „Hermannstraße. Süßer Duft. Fauliger Duft. […] Kein Regen wäscht weg, was hier in den Ritzen versteckt, Matratzenlager, Fixerbesteck. Das ist kein Kontrast, das ist nur ein Prozess, der einer Logik folgt, die kein Erbarmen kennt.“ Nach der Auszeit im Emmauswald ist dieser Prozess besser zu ertragen.
Das eigentlich für Januar geplante Benefizfestival hat Hossbach schweren Herzens abgeblasen. Aber weil für „Emmi Aid“ noch viele weitere Beiträge eingetrudelt sind, können sich „Emmaus bleibt!“ und die Welt auf Volume 2 freuen – hoffentlich dann mit Listeningsession im immer noch grünen Emmauswald.
