Auf den Spuren von Maler Otto Niemeyer-Holstein

So viel ist sicher, gute Manieren sind das nicht. Wie ein Rüpel zieht der Wind um die Häuser und rüttelt rotzfrech an den Türen. Treibt die Ostseewasser in eindrucksvollen Wellen vor sich her Richtung Land und bringt über den Köpfen der Spaziergänger die Choreografie des düsteren Wolkenballetts gehörig aus dem Takt. Doch die Urlauber, die jetzt auf Deutschlands zweitgrößter Insel über Seebrücken marschieren oder ihrem 42 Kilometer langen, feinsandigen Küstensaum ein Stück weit folgen, stört das nicht. Ohnehin kann morgen alles anders sein. Wenn die Sonne wieder scheint und Himmel wie Meer mit tiefer Bläue färbt.

Herbst und Winter bringen Ruhe nach Usedom. Selbst in den tiefen, sonst so trubeligen Inselsüden: in die legendären Kaiserbäder mit ihrem Reigen prächtiger Villen aus der Kaiserzeit. Und erst recht in die ländliche Abgeschiedenheit der Bernsteinbäder – Zempin, Koserow, Loddin und Ückeritz –, die die geografische Mitte der Insel markieren. Dort, wo sich das Land, bedrängt von Ostsee und Achterwasser, wie eine Wespentaille zusammenschnürt.

Koserow, vor langen Jahren noch ein bescheidenes Fischerdorf, ist der größte Ort dieses Bäderquartetts. Noch dazu der einzige mit Seebrücke. Und die hat echtes Starpotenzial. Flaneure aus allen Inselteilen zieht es auf die Holzplanken der ungewöhnlichen Brückenkonstruktion, die sich, getragen von 67 Pfeilern, auf 280 Metern über Dünen und Strand in weiten Wellen in die Ostsee schwingt. Auf dem Seebrückenvorplatz verströmen derweil Backfischbude, Eiscafé und Souvenirshops in dem ansonsten naturnahen Ambiente touristisches Flair. Den Appetit nach kultureller Kost dürften dagegen einige Plakate am Rand des Platzes fördern. Darauf zu sehen: heimische Küstenimpressionen von Otto Niemeyer-Holstein, der über Jahrzehnte nur anderthalb Kilometer entfernt seine Lebens- und Arbeitsstätte hatte. Die beiden Gemälde­reproduktionen von Usedoms bedeutendem Maler bilden hier den Anfang einer kleinen kunstsinnigen Wanderung, die, begleitet von weiteren Motiven, über einen asphaltierten Rad- und Fußweg parallel zur Hauptstraße direkt nach Lüttenort führt, das außergewöhnliche Zuhause des Künstlers, das heute Museum ist. Gelegen an der mit 300 Metern schmalsten Stelle der Insel – auf der einen Seite das Meer, auf der anderen das Achterwasser, jene weite Lagune des Peenestroms, der das Eiland vom Festland trennt.

Otto Niemeyer – der Bei­name „Holstein“ steht für seine geografische Herkunft – lebte seit 1925 in Berlin. Und war unglücklich. Die Großstadt lag ihm nicht. Umso dringlicher war seine Suche nach einem Sommerdomizil irgendwo an der Ostsee. Unterwegs mit ihrem Segelboot „Lütter“ wurden der Maler, gerade 37 Jahre alt, und seine Frau Annelise Anfang der 1930er-Jahre schließlich nach langer Suche auf der Insel Usedom fündig: Eine einsame Brache am Ufer des Achterwassers zwischen Koserow und Zempin hatte es ihnen angetan. „Ein Bollwerk fanden sie vor, einen aufgegebenen Bauhafen mit einer einzigen Weide, an der sie ihr Boot festmachten“, wie Franka Keil, Leiterin des Museums Atelier Otto Niemeyer-Holstein, berichtet. Und das Boot gab dem Ort seinen Namen: Lüttenort.

400 Quadratmeter ödes Land und für den vorläufigen Aufenthalt im Sommer ein ausrangierter S-Bahn-Waggon, den Otto Niemeyer-Holstein für 60 Mark und 65 Pfennige in Berlin kaufte und auf beschwerliche Weise an Ort und Stelle schaffen ließ. So begann das Abenteuer, das bis zum Tod des Künstlers 1984 dauern sollte. Mit den Jahren vergrößerte er das Grundstück durch Zukauf deutlich, ein Garten wurde angelegt, der S-Bahn-Wagen wurde recht eigenwillig umbaut und überbaut, um Wohnraum für die Familie zu schaffen.

Heute können Besucher das noch original erhaltene Wohnhaus Niemeyer-Holsteins im Rahmen einer Führung besichtigen: die altmodische kleine Küche ebenso wie die gute Stube, in der alles, von den schweren dunklen Möbeln bis zu den Delfter Fliesen an der Wand, aus dem Haus seiner Eltern stammt. Und natürlich auch das Atelier im ehemaligen Stall nebenan, das wirkt, als wäre sein Besitzer gerade mal hinausgegangen: Auf der Staffelei und dem Boden stehen seine Bilder, verschmierte Farbtuben tummeln sich in einer Zigarrenkiste, eine Chaiselongue lädt zur mittäglichen Siesta ein, überall liegen Malutensilien herum.

Hier wie auch in der 2001 hinzugekommenen Galerie erklärt sich das Œuvre des von Expressionismus und Neuer Sachlichkeit beeinflussten Malers sofort: Ölbilder, Aquarelle und Grafiken, oft von Landschaft handelnd und von der Natur inspiriert, die Motive seinem unmittelbaren Umfeld entsprungen. „Vor allem das Meer, das im Zusammenspiel von Licht, Wind und Wolken immer wieder neue Eindrücke und Spannungen bot, war für ihn eine Herausforderung“, sagt Franka Keil.

Das Niemeyersche Anwesen ist zweifellos ein Gesamtkunstwerk, ein Ort der Begegnung von Kunst und Natur – was sich nirgendwo deutlicher als im Garten von Lüttenort zeigt: Holprige Wege schlängeln sich zwischen alten Mauern durch ein verwunschenes Reich aus Bäumen, Sträuchern, Wiese. Hier liegt das Moos wie ein wärmender Pelz auf knorrigem Nadelholz, dort lehnt eine Leiter windschief an einem Stamm. Längst braun gewordene Weintrauben baumeln von einer Pergola, anderswo tragen die Blütenköpfe von Hortensien und Rosen die Zeichen der Vergänglichkeit. Und inmitten all der herbstlichen Pracht fügen sich rund 30 Skulpturen, die der Maler kaufte, tauschte oder geschenkt bekam, ganz selbstverständlich ins Bild. Arbeiten aus Bronze, Zement, Sandstein oder Kunstharz – gefertigt von Wieland Förster, Waldemar Grzimek und anderen Freunden Niemeyer-Holsteins. Sorgsam platziert in der Gartenlandschaft, einer Bühne für die Kunst.

Neben Lüttenort birgt Usedom noch viele Schätze mehr, prominentere oder weniger bekannte. Und der Urlaubsgast hat immer die Qual der Wahl. So wird der eine begeistert über Europas längste Strandpromenade flanieren, die über zwölf Kilometer von Bansin über Heringsdorf und Ahlbeck bis ins polnische Swinemünde führt – hofiert vom architektonischen Erbe einer verblassten Zeit, als sich der Berliner (Geld-)Adel hier mondäne Sommerresidenzen mit Erkern, Türmchen, Säulen, Loggien bauen ließ und aus einfachen Dörfern elegante Seebäder machte. Andere geben vielleicht weiterhin den eher verborgenen Inselperlen den Vorzug: genießen im Dunstkreis der Koserower Seebrücke die Aussicht vom Streckelsberg, stöbern am Strand der Bernsteinbäder nach stürmischen Nächten zwischen angespülten Muscheln und Treibholz das „Gold des Meeres“ auf, schlendern durch den Park von Mellenthin, um im Anschluss auf ein Stück Torte in die betagten Mauern seines Wasserschlosses einzukehren. Oder besuchen in der Usedomer Schweiz die alte Holländermühle Benz, die Otto Niemeyer-Holstein 1974 kaufte und vor dem Verfall rettete. Nur ein kurzes Wegstück von dem technischen Denkmal entfernt schließt sich für uns der Kreis auf dem Alten Friedhof: Hier fanden der Maler und seine Frau ihre letzte Ruhestätte – das Grab im Baumschatten nur durch zwei einfache Platten mit Namen und Lebensdaten kenntlich gemacht und verziert von der Skulptur eines steinernen Jünglings, der seinen leeren Blick Richtung Mühle wendet.