Arzt in Darmstadt auf Intensivstation geprügelt: Wie kommt es zu dieser Gewalt?

Herr Dr. Çelik, in der Nacht auf vergangenen Sonntag wurde einem Arzt im Klinikum Darmstadt so schwer ins Gesicht geschlagen, dass er eine Gehirnblutung erlitt und auf der Intensivstation behandelt werden musste. Wie haben Sie das als Mitarbeiter der Klinik erlebt?

Wir sind alle tief erschüttert. Das Wichtigste ist, dass der Kollege schnell wieder gesund wird. Ein 76 Jahre alter Kollege, der eigentlich seine Rente genießen könnte, arbeitet aus Liebe zum Beruf weiterhin im ärztlichen Bereitschaftsdienst, schlägt sich dafür die Nächte um die Ohren – und ausgerechnet ihm passiert so etwas. Das ist schrecklich und macht wütend.

Der 55 Jahre alte Täter hatte seine Frau zum ärztlichen Bereitschaftsdienst begleitet. Die Situation eskalierte, nachdem der Frau erklärt worden war, dass keine akute Behandlung notwendig sei. Der Arzt kam wohl erst am Ende dazu, dann schlug der Täter zu. Wie schwer ist die Verletzung?

Er hat eine Kopfwunde, und es wurde eine Hirnblutung festgestellt, das ist schon sehr schwerwiegend. Er hat außerdem ein zugeschwollenes Auge und große Hämatome. Es war reines Glück, dass es nicht zu einer größeren Blutung kam, die bleibende Schäden hätte verursachen können. Er musste nicht operiert werden und wurde am Mittwoch aus der Klinik entlassen. Aber er wird längere Zeit nicht arbeitsfähig sein.

Wie sollte die Klinik darauf reagieren?

Ich kann nur aus ärztlicher Sicht sprechen. Wir müssen zunächst das Sicherheitsgefühl der Mitarbeiter verbessern, zum Beispiel durch mehr Präsenz von Sicherheitspersonal vor Ort. Der angegriffene Kollege selbst betont aber auch, dass dieser Angriff nicht dazu führen darf, dass die Klinik in einen Hochsicherheitsbereich verwandelt wird und dadurch die Distanz zu den Patienten größer wird. Wir möchten in einem offenen Krankenhaus arbeiten und den Patienten nicht mit Misstrauen begegnen, aber auch keine Angst haben müssen. Das ist ein schmaler Grat. Wir sind auf einen respektvollen Umgang angewiesen. Türen zu schließen oder einschüchternd auftretendes Sicherheitspersonal sind nicht unser Wunsch. Wir möchten Eskalationen vorbeugen.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Wieso kommt es immer öfter zu Gewalt in Kliniken?

Ich sehe es als Ausdruck einer zunehmenden Verrohung der Gesellschaft und steigendem Egoismus in einem System unter Stress. Solche Gewalttaten sind nur die Spitze des Eisbergs der Aggressionen im Gesundheitssystem. Das erlebt man in Arztpraxen am Empfang, wo es die Arzthelferinnen und -helfer abkriegen, ebenso in der Notaufnahme und im ärztlichen Bereitschaftsdienst. Es gibt aktuell viel Frust auf allen Seiten, sowohl von Personal- als auch von Patientenseite. Durch Personalmangel spitzt sich das weiter zu. Das Gesundheitspersonal steht unter enormem Stress und kann dann nicht immer deeskalierend wirken – wir sind schließlich auch nur Menschen. Gleichzeitig gibt es immer mehr Patienten, die sich im komplexen Gesundheitssystem voller Zugangshürden nicht zurechtfinden. Sie warten lange auf Facharzttermine, haben das Gefühl, immer mehr zu zahlen und immer weniger Leistung zu bekommen. Der Frust ist also auf beiden Seiten groß, damit steigt das Aggressionspotential. Das Spektrum der Reaktionen reicht von einer schlechten Klinikbewertung auf Google bis hin zu einem Angriff auf medizinisches Personal. Damit will ich nichts relativieren. Ich hoffe, dass dieser Fall sorgfältig ermittelt wird und der Täter seine Strafe bekommt. Es muss klar sein, dass so etwas nicht akzeptabel ist. Wenn wir wirklich gegensteuern wollen, müssen wir uns aber auch mit den Ursachen befassen. Ich möchte, dass überlegt wird, wie sich der Druck in einem System reduzieren lässt, das zunehmend Frust auf allen Seiten erzeugt.

In welchen Situationen tritt Gewalt im Krankenhaus besonders häufig auf?

Gewalt tritt meist dann auf, wenn Menschen in einem emotionalen Ausnahmezustand sind. Die Notaufnahme ist ein Brennpunkt dafür – emotionale Erregung, Zeitdruck, Ungewissheit und Wartezeiten erhöhen das Eskalationsrisiko. Oft sind Angehörige noch gereizter als die Patienten selbst, da sie Kontrollverlust und Angst empfinden und sich übergangen fühlen. Ein Risikofaktor für Eskalationen ist schlechte Kommunikation beispielsweise durch Sprachbarrieren. Am häufigsten handelt es sich um Patienten unter Alkohol- oder Drogeneinfluss, die schwer einschätzbar sind. Auch im Rettungsdienst außerhalb des Krankenhauses sind Situationen oft unberechenbar. Notärzte oder Rettungssanitäter müssen oft erst unter Stress verstehen, was überhaupt los ist – das sind Ausnahmesituationen, in denen es eskalieren kann. Es ist meist ein Zusammenkommen von Machtlosigkeitsgefühl und Frust, das bei einzelnen Menschen zu Gewalt führt.

Haben Sie selbst schon aggressive Patienten erlebt?

Ja, selbstverständlich. Wie wahrscheinlich jeder, der in der Medizin arbeitet. Das passiert auch im stationären Alltag. Pflegekräfte erleben Aggressionen und übergriffiges Verhalten allerdings noch häufiger als Ärzte. Leider fehlt es insbesondere männlichen Patienten immer wieder am Respekt gegenüber jüngeren, weiblichen Pflegekräften und Ärztinnen. Wenn die Pflege nicht mehr weiterkommt und den Arzt ruft, ändert sich das Verhalten plötzlich. Das ist schlimm. Wir bemühen uns, deeskalierend auf Patienten in psychischen Ausnahmesituationen einzuwirken. Der Kollege, der jetzt angegriffen wurde, hatte dazu in diesem Fall gar keine Chance. Die Eskalation war schon vorher da. Da war kein Beruhigen mehr möglich.

Was ist Ihnen selbst schon passiert?

Ich wurde schon öfter mit Gegenständen und sogar mit Exkrementen beworfen, aber das waren Patienten in einem deliranten Ausnahmezustand, die wirklich nicht zurechnungsfähig waren. Auf der Intensivstation müssen aggressive Patienten bei Fremdgefährdung auch mal mit richterlichem Beschluss fixiert werden, auch das ist leider Alltag. Das gehört zum Beruf dazu. Als Mann mit einer gewissen Körpergröße hat man es aber leichter und wird seltener zum Ziel.

Der aktuelle Vorfall ereignete sich im ärztlichen Bereitschaftsdienst. Wie ist der bei Ihnen organisiert?

Wir haben im Klinikum ein Modell etabliert, das den Frust eigentlich reduzieren soll. Es gibt eine Notaufnahme, dort werden Patienten abgewiesen, wenn kein Notfall vorliegt. Aber direkt neben der Notaufnahme befindet sich der ärztliche Bereitschaftsdienst, wo ihnen dann geholfen werden kann. Dorthin werden Patienten geschickt, die kein Notfall sind, aber außerhalb der Sprechzeiten der Hausärzte einen Arzt aufsuchen müssen. Organisatorisch gehört der Bereitschaftsdienst nicht zum Klinikum, sondern zur Kassenärztlichen Vereinigung. Dort übernehmen niedergelassene Ärzte, meist Hausärzte, neben ihrer Praxisarbeit Dienste.

Viele Krankenhäuser beschäftigen mittlerweile Sicherheitsdienste
Viele Krankenhäuser beschäftigen mittlerweile Sicherheitsdiensteepd

Viele Notaufnahmen beklagen, dass Patienten mit nicht dringenden Problemen kommen. Ist das ein Grund für die zunehmende Aggressivität?

Ja, sicher. Die Fälle belasten die Notaufnahmen und behindern die Versorgung tatsächlicher Notfälle. Genau so entsteht Ärger auf allen Seiten, wenn Patienten mit nicht dringenden Beschwerden in die Notaufnahme kommen, weil sie keinen Termin beim Facharzt bekommen. Dann werden die Beschwerden schlimmer, und die Patienten wissen sich nicht anders zu helfen, als in die Notaufnahme zu gehen. Das erleben wir häufig. Manche haben seit Wochen Rückenschmerzen, kommen dann nachts am Wochenende in die Notaufnahme, warten sechs Stunden, und am Ende sagt der Arzt, dass man akut nichts machen könne. Der Patient wird an den Facharzt oder Hausarzt verwiesen und ist dann massiv frustriert. Wenn Patienten von Anfang an wüssten, wohin sie sich mit ihren Beschwerden wenden müssen, und dort auch zeitnah Termine bekämen, ließe sich viel Frust vermeiden. Die Onlinebewertungen großer Notaufnahmen zeigen immer wieder dasselbe Muster: Unzufriedenheit entsteht vor allem dann, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden – oft in Fällen, die medizinisch nicht in die Notaufnahme gehören. Niemand wartet gerne sechs Stunden in einer Notaufnahme. Das machen die Betroffenen nicht aus Spaß, sondern weil sie es nicht besser wissen. Es gibt auch ein großes soziales Gefälle: Je besser gebildet jemand ist und je höher die Gesundheitskompetenz, desto eher landet man beim richtigen Arzt.

Wird das Problem durch Migration verschärft?

Wir wissen, dass Gewalt gegen medizinisches Personal in einigen Ländern deutlich häufiger vorkommt, etwa in der Türkei, wo Angriffe auf Ärzte seit Jahren ein großes Thema sind. Dort tritt Gewalt in Frustsituationen häufiger auf, weil aggressives Verhalten bei Konflikten weniger stark sanktioniert wird. Wenn Menschen aus solchen Systemen kommen und gleichzeitig mit Sprachbarrieren, fehlender Orientierung im deutschen Gesundheitssystem und langen Wartezeiten konfrontiert sind, kann es das Eskalationsrisiko erhöhen. Wenn Kommunikation nicht funktioniert, ist das gerade im Eskalationsmanagement fatal. Wer nicht weiß, wohin er sich mit gesundheitlichen Beschwerden wenden soll, erlebt Machtlosigkeit, und das begünstigt Eskalationen. Je besser Menschen im deutschen Gesundheitssystem orientiert sind und je länger sie hier leben, desto seltener treten solche Situationen auf. Die Herkunft an sich erklärt Gewalt also nicht. Ich warne ausdrücklich davor, Gewaltfragen auf Kultur oder Herkunft zu verkürzen. Das ist fachlich falsch und verhindert durch Vereinfachung, dass wir die eigentlichen Ursachen angehen. Das sieht auch der Kollege so, der angegriffen wurde.

Kommen wir zu einem anderen Thema: der aktuellen Infektionslage. Man hört von einer neuen, aggressiveren Grippevariante.

Wir sehen in der Klinik, dass die Grippewelle begonnen hat, und betreuen eine steigende Zahl stationärer Fälle. Eine neue Sub-Linie von Influenza A hat in Australien, wo die Grippewelle bereits vorbei ist, zu 20 Prozent mehr Fällen geführt. Die aktuelle Variante erhöht die Übertragbarkeit, und die diesjährige Impfung ist auf diese Sub-Linie nicht optimal abgestimmt. Dadurch wird die Effektivität der Impfung gegen diese Variante voraussichtlich geringer sein als in guten Jahren. Trotzdem ist die Impfung für Risikogruppen wichtig. Auch 40 Prozent Impfeffektivität retten in der Risikogruppe Leben, denn der Schutz vor schweren Verläufen ist weiterhin gut. Die neue Variante scheint aber nicht kränker zu machen als vorherige Varianten. Parallel dazu bleiben die Covid-Fälle in der Klinik auf einem ähnlichen Niveau. Beide isolationspflichtigen Erkrankungen treten also gleichzeitig auf, wobei die Dynamik bei der Influenza deutlich ansteigt. Das Hauptproblem bei uns ist aktuell aber nicht die Anzahl der Patienten, sondern der hohe Krankenstand beim Personal.

Sie sollen bald vor dem Corona-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags aussagen, der von der AfD-Fraktion initiiert wurde. Wie blicken Sie darauf?

Ich habe grundsätzlich nichts dagegen und freue mich, wenn ich zu einem Erkenntnisgewinn beitragen kann. Allerdings habe ich die Sorge, dass es manchen Fraktionen nicht um Erkenntnisgewinn, sondern um faktenferne politische Abrechnungen geht. Das hat man teilweise bei der Befragung von Christian Drosten in der Enquetekommission des Bundestags erlebt. Ich gehe aber offen an die Sache heran und habe keine Angst vor Fragen. Bisher habe ich nur aus den Medien erfahren, dass ich im Laufe des Januars eingeladen werden soll; eine offizielle Einladung liegt mir noch nicht vor.

Eine andere aktuelle Diskussion ist, ob hochbetagte Patienten zu oft mit sehr teuren Therapien behandelt werden, die ihnen kaum noch helfen. Wie sehen Sie das?

Diese Diskussion ist in der Öffentlichkeit sehr schwierig zu führen. Es ist eine individuelle ärztliche Entscheidung, die in Rücksprache mit dem Patienten getroffen wird, welche Therapien, Medikamente oder Operationen sinnvoll sind und welche nicht. Dazu müssen Faktoren wie Lebensqualität, Prognose, Patientenwunsch und Risiko berücksichtigt werden. Und natürlich muss ein Arzt auch mit den Ressourcen des Gesundheitssystems verantwortungsvoll umgehen. Das Alter allein darf aber niemals das entscheidende Kriterium sein. Generell stehen derzeit bei der politischen Debatte um die Kosten im Gesundheitssystem leider vor allem Vorschläge im Vordergrund, die die Patientenseite betreffen: Leistungskürzungen, Zuzahlungen oder dass Patienten Rettungswageneinsätze selbst bezahlen sollen. Das macht mir Sorgen. Stattdessen könnte man die steigenden Arzneimittelkosten in den Blick nehmen und die Pharmaindustrie in die Pflicht nehmen.

Wie ist die Lage, Herr Doktor?

Dr. Cihan Çelik ist Lungen­facharzt am Klinikum Darmstadt. Während der Pandemie hat er mit uns seine Erfahrungen in Sachen Corona geteilt. Mittlerweile sprechen wir mit ihm regelmäßig über alles, was Mediziner, Pfleger und Patienten im Krankenhaus­­­­­­­­­­­­­­­­­alltag beschäftigt.