Armuts- und Reichtumsbericht: Soziale Ungleichheit in Deutschland nimmt ab

Die Ungleichheit der Vermögen in Deutschland hat in den vergangenen Jahren abgenommen. Zu Beginn der Zehnerjahre verfügten die reichsten zehn Prozent der Deutschen noch über 59 Prozent des gesamten Nettovermögens hierzulande. Bis 2023 nahm ihr Anteil am Gesamtvermögen schrittweise auf 54 Prozent ab. Zugleich hat sich der Anteil der Haushalte mit negativem Nettovermögen – also mit Schulden, die höher sind als Hab und Gut – von neun auf sechs Prozent verringert. Das zeigt der neue Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dessen Entwurf der F.A.Z. vorliegt.

Mit dem Bericht liefert die Regierung alle vier Jahre ein breites Spektrum an Daten und Analysen zu sozialpolitisch interessierenden Fragen. Die neue Ausgabe, die 683 Seiten umfasst, ist die siebte in der einst von der rot-grünen Regierungskoa­lition eröffneten Reihe. Die Daten zur Vermögensverteilung im neuen Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) stammen aus Erhebungen der Bundesbank. Das Durchschnittsvermögen je Privathaushalt belief sich demnach 2023 auf 325.000 Euro. Das waren no­minal, also nicht preisbereinigt, 130.000 Euro ­oder zwei Drittel mehr als zu Beginn der Zehnerjahre.

Die obere Mittelschicht hat aufgeholt

Die Ergebnisse der Bundesbank-Erhebung zeigten, „dass die Vermögensbestände zwischen 2010/11 und 2023 auf breiter Basis zugenommen haben“, heißt es in dem federführend vom Bundesarbeitsministerium erstellten Berichtsentwurf. „Insbesondere auch bei Haushalten mit geringem Vermögen gab es relativ zu den vorhandenen Beständen starke Zuwächse.“ Allerdings sei das Vermögen dennoch „ins­gesamt sehr ungleich verteilt“.

Der Anteil der unteren Hälfte der Bevölkerung am Gesamtvermögen sta­gnierte über die Jahre bei drei Prozent, obwohl auch dort die Höhe der Vermögen kräftig wuchs. Dass der Anteil des reichsten Zehntels gesunken ist, liegt der Darstellung zufolge vor allem daran, dass die obere Mittelschicht im Verhältnis zu den Reichsten aufholen konnten. Der sogenannte Gini-Koeffizient, ein statistisches Maß für Vermögensungleichheit, sank im betrachteten Zeitraum von 0,76 auf 0,72. Ein Wert von eins würde extreme Ungleichheit anzeigen, bei einem Wert von null hätten alle Haushalte gleich viel.

Allerdings weicht die öffentliche Wahrnehmung von Armut und Reichtum hierzulande stark von der statistisch gemessenen Wirklichkeit ab. Dies zeigt ein Berichtskapitel, das die Ein­kom­mens­ver­tei­lung untersucht. Kurz gesagt: Die Bürger halten viel mehr Menschen im Land für arm, als es die Statistik hergibt. Zugleich überschätzen sie die Zahl und den Wohlstand reicher Menschen sehr stark.

Der Anteil der Reichen wird stark überschätzt

Nach den üblichen statistischen Kriterien gelten rund 15 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet, da ihr Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommensniveaus beträgt. In den Vorstellungen der Bürger betrifft dies aber doppelt so viele Menschen. In einer Umfrage dazu, dem 2023 eigens für den Bericht erhobenen „ARB-Survey“, hielten die Befragten im Durchschnitt 32 Prozent der Bevölkerung für einkommensarm.

Umgekehrt wird der Anteil der Reichen stark überschätzt. Statistiker ordnen Menschen mit Einkommen von mehr als 200 Prozent des mittleren Niveaus der Oberschicht zu; diese Grenze verlief 2023 bei monatlich 4346 Euro netto für eine Einzelperson. Die Befragten zogen die Grenze zum Reichtum aber im Schnitt bei 7685 Euro netto. Zugleich waren sie der Ansicht, dass viel mehr Menschen selbst diese hohe Grenze überschreiten, als das in der Realität der Fall ist. Subjektiv ord­neten die Befragten gut 25 Prozent der Bevölkerung ein Einkommen von weit mehr als 7000 Euro netto zu. Laut Statistik überschreiten aber nur acht Prozent die nied­rigere Schwelle von 4346 Euro netto.

Wahrnehmungen erschweren Kompromissfindung

Solche Wahrnehmungen spielen auch für die politische Auseinandersetzung ei­ne große Rolle – und erschweren wohl zuweilen die Kompromissfindung in Fragen der Sozial- und Umverteilungspolitik. Denn wenn Politiker erklären, dass sie zur Finanzierung steigender Sozialausgaben die „starken Schultern“ mehr tragen lassen wollen, dann wird dabei deren tatsächliche Stärke offensichtlich weithin überschätzt; genauso wie die Summen, die bei diesen „Reichen“ zu holen wären.

In einem weiteren Abschnitt bescheinigt der neue Bericht indes, dass die Ampelkoalition mit der kräftigen Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns und ihrer Wohngeldreform sozialpolitisch erfolgreich gewesen sei. Hierzu wird gezeigt, wie sich die Einkommen von Haushalten in drei ausgewählten Erwerbskonstellationen in den Jahren 2021 bis 2024 entwickelt haben. Ergebnis: Die Nettoeinkommen von Mindestlohnbeziehern stiegen etwas stärker als die von Arbeitslosen.

Ein Arbeitslosenhaushalt hatte demnach 2024 rund 22 Prozent mehr Einkommen zur Verfügung als 2021. Ein Haushalt, der mit Teilzeitarbeit zwar Lohn erzielt, aber ergänzend aufstockendes Bür­ger­geld erhält, erzielte derweil ein Plus von 26 Prozent. Und ein Haushalt, der Vollzeit jeweils zum gesetzlichen Mindestlohn arbeitete, konnte sein Einkommen um 29 Prozent steigern. Die Wer­te beziehen sich auf Singlehaushalte; für andere Haushaltstypen fallen sie ähnlich aus.

Der gesetzliche Mindestlohn wurde in den drei Jahren tatsächlich um insgesamt 29,6 Prozent erhöht, von 9,50 auf 12,41 Eu­ro brutto. Die Darstellung im Bericht weist zusätzlich aus, dass der hier betrachtete Singlehaushalt im Jahr 2021 keine ergänzenden Sozialleistungen erhielt neben dem Mindestlohnverdienst. Im Jahr 2024 bezog er dagegen, infolge der Wohngeldreform, neben 1504 Euro Nettoar­beits­lohn auch 28 Euro Wohngeld. Daneben wirkte sich eine von der Ampelkoa­lition veränderte Sozialabgabenregelung für sogenannte Midijobs auf die Zahlen aus.

Zusammenfassend lasse sich festhalten, dass sich „die verfügbaren Einkommen für die hier berücksichtigten Erwerbskonstellationen zwischen 2021 und 2024 deutlich erhöht haben, und zwar unabhängig davon, in welchem Umfang eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde“, heißt es im Bericht. Und dabei hätten Erwerbstätige insbesondere durch den Mindestlohn „in nahezu allen Fallkonstellationen stärker profitiert als jene Personen, die kein Erwerbseinkommen erzielen“. Eine entsprechende Auswertung für Beschäftigte mit Verdiensten oberhalb des Mindestlohns liefert der Entwurf nicht.