Arktischer Ozean in der Kaltzeit: Eispanzer oder offenes Meer? – Wissen

Die meisten Menschen, davon kann man wohl ausgehen, stellen sich die Kaltzeiten der Erdgeschichte ungefähr so vor: Eis und nochmal Eis, je weiter nördlich, desto mehr davon.

Für die Landmassen im Norden stimmt das auch ungefähr, sie waren zu den kältesten Zeiten tatsächlich weitgehend von Eis bedeckt. Aber was ist eigentlich mit dem arktischen Ozean? Hatte auch er einen festen, kilometerdicken Eispanzer als Ausläufer des Inlandeises, oder blieb er teilweise frei? Hier sind sich Forscher noch uneins. Mit einer neuen Studie will eine Gruppe norwegischer, britischer und deutscher Forscher nun belegen: In den vergangenen 750 000 Jahren, also über mehrere Kaltzeiten mit massiver Vergletscherung hinweg, sei zumindest ein Teil des arktischen Ozeans im Sommer immer offen gewesen.

Die Debatte gibt es schon seit Jahren, denn die Datenlage ist widersprüchlich. Eigentlich entsprechen die Sedimente, die man am Meeresgrund findet, nicht ganz dem, was man unter offenem Ozean erwartet. Auch manche Spuren von Erosion am Meeresgrund deuten auf einen Eispanzer hin. Im Jahr 2021 veröffentlichte eine Gruppe um Walter Geibert vom Alfred-Wegener-Institut (Awi) in Bremerhaven eine Studie dazu in Nature. Die Forscher argumentierten darin: Der arktische Ozean und die angrenzenden Meere seien in den vergangenen 131 000 Jahren mehrfach nicht nur von einem dicken Eispanzer bedeckt gewesen, sondern auch noch mit Süßwasser gefüllt gewesen.

Das dicke Eis, so die Theorie, habe die Verbindung zum restlichen Ozean weitgehend gekappt, sodass Salzwasser nach und nach durch zuströmendes Süßwasser aus Inlandgletschern verdrängt worden sei.

Mit einem dauerhaften Eispanzer ist so ein wimmelndes Leben unvereinbar

Aber unumstritten ist diese Sichtweise nicht. Und nun zeigt eine neue Arbeit im Fachmagazin Science Advances: Es gibt auch deutliche Hinweise, die gegen den Eispanzer sprechen. Das Team um Jochen Knies von der Geological Survey of Norway und der Arktischen Universität von Norwegen in Tromsø hat Sedimentproben von zwei Orten untersucht: Einer liegt vor Spitzbergen an der Verbindungsstelle von arktischem Ozean und Atlantik, einer im Europäischen Nordmeer zwischen Grönland und Norwegen.

„Ganz lässt sich der Streit nicht auflösen“, sagt Gerrit Lohmann vom Awi, der an der neuen Studie beteiligt war. „Alle Daten zeigen deutliche Veränderungen im Arktischen Ozean während der Eiszeiten.“ Solche Veränderungen muss man interpretieren und erklären. Aber war der Salzgehalt wirklich so niedrig wie vermutet, und kann die Eispanzer-Theorie stimmen? Das Team um Knies fand in ihren Proben nun jedenfalls kontinuierliche Spuren von chemischen Verbindungen, die von Algen an Meereis im Frühling produziert und im Sommer abgelagert werden, wenn das Eis schmilzt. Auch weitere Stoffe wiesen auf regelmäßige Plankton-Aktivität im Frühling und Sommer hin. Mit einem dauerhaften Eispanzer ist so ein wimmelndes Leben unvereinbar; es braucht Licht und zumindest zeitweise offenes Wasser. Wenn es dort überhaupt je einen Eispanzer gegeben habe, argumentieren die Forscher, dann wäre er partiell oder kurzlebig gewesen.

Die Forscher modellierten auch die Bedingungen, die etwa vor rund 21 000 Jahren am Höhepunkt der letzten Kaltzeit herrschten oder vor 140 000 Jahren, als es noch kälter war. Die Ergebnisse passten zu den Sedimenten: Selbst in den eisigsten Zeiten sollte warmes Wasser aus dem Atlantik in den arktischen Ozean geflossen sein. „Die großräumige Ozeanzirkulation war im Vergleich zu heute nur moderat abgeschwächt“, sagt Lohmann, der an der Modellierung beteiligt war. Es wurde also offenbar Wärme nach Norden transportiert und an die Atmosphäre abgegeben. Unter einem Eispanzer geht das nicht – mindestens eine Rinne müsste also offen geblieben sein.

Alles lange her, kann man sagen, wen kümmert es. Aber es könnte auch heute relevant sein. „Diese Muster der Vergangenheit helfen uns zu verstehen, was in Zukunftsszenarien möglich ist“, sagte Leitautor Knies laut einer Pressemitteilung seiner Universität. Schließlich verändert sich in der Klimakrise kaum eine Region so schnell und drastisch wie die Arktis. Je besser die Modelle sie abbilden, so der Gedanke, desto besser lässt sich vorhersagen, was noch kommt.