Ein bedrohlich roter Kreis glüht in tiefer Dunkelheit. Ist es der Mond? Nebel wallt, ansonsten: Warten, Stille, Leere. Man meint ein Atmen zu hören. So beginnt „Midwinter“, eine nun in Osnabrück aufgeführte Arbeit des britischen Choreografen James Wilton – Premiere nicht von ungefähr am vergangenen Sonnabend, zur Wintersonnenwende.
Dann sammeln sich Menschen vor uns, langsam, wie hypnotisiert: Ihre Kleidung wirkt altertümlich, schlicht, fast farblos. Ein spiralförmiger, trancehafter Kreistanz beginnt. Er wirkt wie ein Anderswelt-Ritual, wie eine Beschwörung, eine Anbetung. Schwere teilt sich mit, Beklemmung. Am Ende ist der Raum hell und der Kreis tatsächlich eine Sonne, die Frühling verheißt. Menschen entsteigen ihr, gehen in ihr auf. Die Zeit der langen, eisigen Nächte ist vorüber, das Licht kehrt zurück, Hoffnung keimt auf.
Wilton stellt die Behauptung auf, seine Wintersonnenwende tauche tief in die keltische Mythologie ein. Klar ist jedoch: Anspruch auf historische Korrektheit können seine Beschwörungsszenen nicht erheben. Was uns entgegentritt, wirkt stattdessen wie ein Fantasie-Konglomerat vieler Vergangenheiten. Da treibt ein Wesen mit gehörntem Pferdeschädel die Menge vor sich her. Ein Baumstamm wird verehrt. In einem Kuchen findet sich eine Münze, die den Finder zum König macht – für einen Tag. Jahrtausende ziehen an uns vorüber, Epochen, Kulturen.
Das alles böte Stoff, das Wesen des Menschen zu definieren. Sich abzuarbeiten an dem, was uns alle vereint – was unser aller Sehnsucht ist. Aber das gelingt Wilton nicht. „Midwinter“ konfrontiert uns mit klischeebehafteter Ethno-Archaik. Das Spektakel dient sich dann auch noch so stark der eklektischen Fantasy-Optik der musikalisch beteiligten Band „Heilung“ an, dass es sich von deren neo-pagan-schamanistischem Geraune und Gegrolle kaum wieder zu emanzipieren weiß.
Nächste Vorstellungen: 28. 12. 2024 sowie 2., 9. und 15. 1. 2025, Osnabrück, Emma-Theater
Die Band, gedanklich und sprachlich angeblich zwischen Eisenzeit und Frühmittelalter angesiedelt, ist keine unproblematische Wahl: Unter ihren Videos wird auf YouTube schon mal NS- und AfD-Lastiges gepostet; nach einem Rassismus-Vorfall auf einem ihrer Konzerte musste die Band sich 2020 von „hate speech“ und „white supremacy“ distanzieren: Wälle aus Rundschilden hat sie zu ihren Klangkulissen schon gezeigt, Wälder aus Speeren.
Das lockt offenbar auch Germanenkult-Begeisterte an, Odinsjünger, Neo-Faschisten. Zumal vor dem Hintergrund, dass die Wintersonnenwende im Feiertags-Kalender des Nationalsozialismus steht, kann irritieren, wie viel Raum so eine Band, so eine Ästhetik nun von Wilton eingeräumt bekommen.
Trommeldonner, Sprechgesang, stampfende Füße, anbetend gen Himmel erhobene Hände: Offenbar gehört das dazu, wenn angebliche Uralt-Rituale nachgestellt werden, wie authentisch oder erfunden auch immer. Menschen wälzen sich halbnackt am Boden, winden sich umeinander, stoßen wilde Schreie aus, fechten Kämpfe aus, haben animalisch-ekstatisch Sex. Das wirkt teils dynamisch und teils kraftvoll, auch wenn die Athletik zuweilen zu wünschen übrig lässt.
Aber viele Szenen sind überlang, bestehen aus zu viel Wiederholung. Hinzu kommt: Was textlich auf uns einbrandet, ist meist nicht zu verstehen; helfen würden nicht mal Kenntnisse alter wie neuer skandinavischer Sprachen. Worum genau es geht, bleibt so dunkel wie die Bühne, auf der die TänzerInnen manchmal nur schemenhaft zu erkennen sind.
Die Frauen tragen geflochtene Zöpfe, als seien wir bei „Vikings“-TV. Am Ende bemalen sich alle Braveheart-blau, wohl weil das angeblich schon die Germanen und Kelten taten. Und immer wieder wallt Nebel, weil’s so schön mystisch ist.
In einer online veröffentlichten „Audio-Einführung“ betont Dramaturgin Britta Horwath Wiltons „ganz besondere tänzerische Handschrift“, spricht von Akrobatik, dem „zeitgenössischen Tanz am und mit dem Boden“. Uns tritt ein Stück entgegen, dem es um Naturkreisläufe geht, um innere Besinnung. Körper wirbeln, schleifen, kriechen, werfen sich. War es so, bei den Kelten, den Wikingern? Niemand weiß es.