
Für gewöhnlich machen politische Personalentscheidungen in der Region Hannover keine Schlagzeilen. Auch wenn es sich mit 1,2 Millionen Bürgern um den größten Landkreis in Deutschland handelt. Aber seit klar ist, wer die Nominierte für die Leitung des Dezernats für Soziales, Familie und Jugend ist, liegen die Dinge anders. Denn von 2026 an soll Anne Spiegel in seiner Verwaltung anfangen.
Die Grünenpolitikerin war im April 2022 nach nur fünf Monaten im Amt als Bundesfamilienministerin zurückgetreten, nachdem bekannt geworden war, dass sie zehn Tage nach der Ahrtal-Flut im Juli 2021 einen vierwöchigen Urlaub angetreten hatte, obwohl sie als damalige Umweltministerin in Rheinland-Pfalz für die Bewältigung der Katastrophe mit 135 Toten zuständig war.
Auch in Niedersachsen ist das bis heute nicht vergessen. Der Vorschlag, Spiegel zur Dezernentin mit B7-Besoldung (was einem Grundgehaltssatz von gut 11.649 Euro entspricht) zu befördern, wird nicht nur in der Öffentlichkeit kritisch kommentiert, sondern ist auch Gesprächsthema bei den Grünen selbst. „Wie kann man sich so eine vorbelastete Personalie ausdenken?“, heißt es dort.
Der Unmut hat auch damit zu tun, dass in Niedersachsen in knapp einem Jahr die Kommunalwahlen anstehen, bei denen es um die Zukunft von Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay geht, dem bundesweit wichtigsten Kommunalpolitiker der Grünen. Und ungefähr das Letzte, was Onay angesichts des Umfragetiefs seiner Partei benötigt, ist eine Debatte über einen möglichen Versorgungsposten für eine abgestürzte Bundespolitikerin.
Spiegel erwog offenbar Rückkehr in den Bundestag
Spiegel war in Rheinland-Pfalz über Jahre das Gesicht der Grünen. Von 2016 an war sie Familien- und Sozialministerin und wurde Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl 2021. Als Ende 2020 Umweltministerin Ulrike Höfken, ihre Parteikollegin, wegen einer Beförderungsaffäre zurücktrat, übernahm Spiegel auch die Führung dieses Hauses. „Es war einfach zu viel für eine Person“, sagte einer ihrer politischen Förderer später. Nach der Bundestagswahl 2021 wurde sie Bundesministerin.
Wie sehr Spiegel auch mit privaten Problemen zu kämpfen hatte, machte sie erst später öffentlich. Als sie als Bundesministerin für ihre Fehler während der Flut in Rheinland-Pfalz um Entschuldigung bat, führte sie ihre schwierige familiäre Situation an: Ihren Mann, der einen Schlaganfall erlitten hatte, ihre vier kleinen Kinder und die schwierige Zeit der Pandemie nannte sie als Gründe, wieso sie nach der Flut in den Urlaub fuhr.
Eigentlich war Spiegel schon in Berlin, hatte den nächsten Karriereschritt genommen, als sie sich vor dem Untersuchungsausschuss in der Heimat für ihre Fehler als Landesministerin rechtfertigen musste. Interne Chats wurden öffentlich, in denen sie sich um das koalitionsinterne „Blamegame“ sorgte, während ihr Haus auf eine eindringliche Warnung vor dem Hochwasser trotz vorliegender Prognosen verzichtete.
Nach ihrem Rücktritt zog sich Spiegel aus der Öffentlichkeit zurück. Seit einem Jahr ist die Grünenpolitikerin hauptamtlich für die gemeinnützige Organisation „Krisenchat“ tätig, bei der professionelle Berater Jugendliche und junge Erwachsene in einem Livechat bei Problemen unterstützen.
Als Spiegel nun für den Posten in Hannover nominiert wurde, gab sie der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ ihr erstes Interview seit Jahren. Schon das finden Grüne kritikfähig: Eine Rückkehr müsse man besser vorbereiten. Den Vorwurf, dass sie in Niedersachsen einen Versorgungsposten erhalte, weist Spiegel mit Verweis auf ihre Tätigkeit bei „Krisenchat“ zurück. Sie sitze beruflich „fest im Sattel“.
Dabei ist schon länger klar, dass Spiegel sich sehr wohl eine Rückkehr in die Politik vorstellen kann. Als sie im April 2024 bei einem Landesparteitag der Grünen auftauchte, verstanden das viele in der Partei als Ausloten ihrer Chancen, für den Bundestag zu kandidieren. Spiegel habe das zwar offiziell nie gesagt, aber auch intern nie ihre Ambitionen dementiert, heißt es. Spiegel dürfte aber gemerkt haben, dass ihr sowohl medial als auch in der Partei Ablehnung entgegenschlug. Weil sie so eng mit der Flutkatastrophe verbunden ist, schien eine politische Rückkehr in Rheinland-Pfalz ausgeschlossen.
Unterdessen soll Spiegel mehrere Angebote erhalten haben, wie es beruflich für sie weitergehen könnte. Eine Stelle bei der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Washington oder bei „UN Women“, die ihr die Grünen im Bund vermittelten, soll sie ebenso ausgeschlagen haben wie einen Posten als Dezernentin in Osnabrück. Das bestätigen Grüne aus Berlin und Mainz der F.A.Z. Es gibt ein Bewusstsein in der Partei, dass es nicht leicht ist, als ehemaliger Abgeordneter oder Minister einen Job zu finden. Wer in die Wirtschaft wechseln will, muss besonders als Grüner in diesen Zeiten kämpfen. Ehemalige Bundestagsabgeordnete sollen seit Monaten suchen, berichtet ein Unternehmer, der Bewerbungen erhalten hat und die Grünen gut kennt.
Ein üblicher, aber heikler Vorgang
Wie genau Spiegel nach Hannover kam, darüber reden Grüne in der Regionsversammlung ungern. Denn bei der Vergabe des Postens gab es eine offizielle und eine inoffizielle Ebene.
Die offizielle Ebene ist die öffentliche Ausschreibung der Stelle, auf die sich Spiegel bewarb. Zur offiziellen Ebene gehört ferner, dass sie nach dieser Bewerbung zunächst von Regionspräsident Steffen Krach (SPD) vorgeschlagen wurde und voraussichtlich am 11. November von der Regionsversammlung gewählt wird. Inoffiziell hatte sich Krach aber bereits vor der Ausschreibung mit den Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen sowie der oppositionellen CDU-Fraktion darauf geeinigt, dass jeder einen Dezernentenposten besetzen darf. Das formale Bewerbungsverfahren sollte also nur bestätigen, was zuvor parteiintern geklärt werden sollte – ein im politischen Betrieb durchaus üblicher Vorgang. Rechtlich heikel ist er dennoch. Um Klagen zuvorzukommen, schweigen die Beteiligten öffentlich darüber.