Als Angela Merkel am Dienstagabend um 19.08 Uhr in hellem Blazer und schwarzer Hose die Bühne des Deutschen Theaters betritt, hebt sie kurz die Hand zum Gruß. Der Applaus macht schnell deutlich, dass die Kanzlerin a.D. ein Heimspiel hat. Die Journalistin Anne Will hat es übernommen, Merkel anlässlich des Erscheinens ihrer Memoiren zu interviewen. Als sie gleich mit der ersten Frage losstürmt, hält Merkel einen kurzen Moment inne und sagt dann: „Guten Abend, erstmal.“ Schon erntet sie den nächsten Applaus. Das Publikum scheint sich auf sie zu freuen und bekommt etwas geboten: zwei Stunden recht launige Unterhaltung.
Schon weit vor 19 Uhr ist das Foyer des Deutschen Theaters gut gefüllt. Die Gäste gruppieren sich um die Bar, um noch ein Wasser oder ein Glas Sekt zu trinken, bevor es losgeht, und um den Stand voller Exemplare der „Freiheit“. So heißen die Memoiren Merkels, um die es an diesem Abend gehen soll. Von der Bühne prangt ein großes Bild mit dem Titel, das helle Blau des Buches kontrastiert mit dem Rot der Sitze im Theater.
Weggefährten aus den Merkel-Jahren sind erschienen, aber kaum Politiker. Volker Kauder, Vorsitzender der Unionsfraktion während fast der kompletten Kanzlerschaft Merkels, ist da, kurz danach kommt Ulrich Wilhelm, ihr erster Regierungssprecher. Merkels Kommunikationschefin und langjährige Vertraute Eva Christiansen, die auch jetzt wieder die Buch-Tour organisiert hat, ist ebenfalls im Publikum. Die Reihen sind gut gefüllt, die Tickets waren bereits in den ersten Minuten des Vorverkaufs vergriffen: Statt „ausverkauft“ hat das Theater im Spielplan eine neue Kategorie eingeführt, „restlos ausverkauft“.
Eine Frau ist hinter der Bühne geblieben, obwohl sie nach Merkel die wichtigste ist für die Entstehung des Buches. „Wo ist Beate Baumann eigentlich?“, fragt Will, um gleich die Antwort zu geben. Sie wisse, dass sie hinter der Bühne ist. „Sie können sie begrüßen“, appelliert sie ans Publikum.“ Wieder Beifall. Baumann ist die Co-Autorin des 740-Seiten Werks. Zwar ist ihre Bedeutung für Merkel, seit sie 1992 zu ihr stieß, bekannt. Doch die Lektüre des Buches macht noch einmal besonders deutlich, wie intensiv sie in alle wichtigen politischen Entscheidungen Merkels einbezogen war. Dass sie hinter der Bühne ist, passt zu ihrem zurückhaltenden Auftreten in der Öffentlichkeit in all den Merkel-Jahren.
„Wenn’s hilft, dann soll man sagen: Merkel war’s.“
Der Abend beginnt nicht etwa mit den großen Kontroversen über die Russlandpolitik, die Migration oder China. Vielmehr geht es um den Osten Deutschlands, Merkels Herkunft aus der DDR. Schon zum Ende ihrer Amtszeit hatte die Kanzlerin Deutschland wissen lassen, wie sehr sie zwei Veröffentlichungen empört haben, in denen ihr mit Bezug auf ihre DDR-Vergangenheit abgesprochen wird, eine Bundesdeutsche wie die westdeutsch sozialisierten Bundesbürger zu sein. Der Ärger scheint noch nicht verraucht. Nicht nur, dass sie das Thema im Buch wieder aufgreift, auch am Dienstagabend wird erkennbar, dass sie das nach wie vor empörend findet. Doch sagt sie auch, was sie freut beim Blick auf dieses Thema. „Ich gehöre zu den glücklichen Menschen, die den Mauerfall in einem Alter erlebt haben, in dem noch viel vor ihnen lag.“
Die Moderatorin fragt, was denn das größere Hindernis in Merkels politischer Karriere gewesen sei, ihre Identität als Frau oder als Ostdeutsche. „Eine Frau zu sein“, antwortet die Buchautorin ohne Zögern. Sie sei in diesem Punkt lange zu gutgläubig gewesen. Auch in ihrem fast verlorenen ersten Wahlkampf 2005 habe sie das zu spüren bekommen. Nicht nur wegen der Macho-Allüren des Amtsvorgängers Gerhard Schröder. „Je näher der Wahltag kam, desto größer war die Sorge: Kann das eine Frau?“ Immer wenn sie anfing, darüber zu jammern, hätten aber Weggefährten zu ihr gesagt: „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen.“ Hinter den Weggefährten darf man getrost Ko-Autorin Beate Baumann vermuten.
Die erste Hälfte des zweistündigen Gesprächs ist schon vergangen, da steuert Anne Will das Gespräch behutsam in Richtung Aktualität. Ob sie es ihrem langjährigen Kontrahenten Friedrich Merz denn gönne, dass er mutmaßlich ihr Nach-Nachfolger an der Spitze der Bundesregierung sein werde, will sie wissen. „Ja“, antwortet Merkel knapp. „Man braucht diesen unbedingten Willen zur Macht, und Friedrich Merz hat den auch, deshalb gönne ich ihm das.“ Was aber nicht bedeute, dass sie Merz‘ Vorstellungen zur Migrationspolitik teile. „In der Frage haben wir zwei Meinungen.“
Dann wechselt Will, wie es die Interview-Lehrbücher raten, vom freundlich-verständnisvollen in einen konfrontativen Ton. „Fahren Sie manchmal mit der Bahn?“, will sie wissen, und natürlich spielt sie damit auf den Zustand an, in dem Merkel das Land hinterlassen hat. „Ich habe nicht den Eindruck, mit meinem Ausscheiden sei das ideale Deutschland hinterlassen worden“, wehrt die Befragte ab – um dann fast patzig zu kontern: „Wenn’s hilft, dann soll man sagen: Merkel war’s.“ Um dann wie im Buch nochmals die Friktionen aufzuzählen, die sie an der Umsetzung des als richtig Erkannten gehindert hätten.
„Ich persönlich halte es auch im Rückblick nicht für einen Fehler“
Als Will auf den ausgebliebenen Ausbau der Landesverteidigung zu sprechen kommt, wirkt Merkel erst mal so angefasst, dass die Moderatorin anmerkt, sie nerve offenbar. „Sie nerven überhaupt nicht“, gibt Merkel zurück, um sich einem Wortgefecht über das derzeit umstrittenste Thema ihrer Amtszeit zu stellen: ihre Russlandpolitik. Wieder verteidigt Merkel ihr Nein zu einer Aufnahme der Ukraine auf dem Bukarester NATO-Gipfel von 2008 mit dem Argument, sonst hätte sich der russische Präsident Wladimir Putin womöglich schon damals zum Angriff auf die Ukraine provoziert gefühlt. „Sie bereuen nichts?“, will Anne Will schließlich wissen. „Ich persönlich halte es auch im Rückblick nicht für einen Fehler“, sagt Merkel.
Ganz am Schluss wird es noch mal versöhnlicher, Will steuert das Gespräch aufs Buch zurück. Merkel wehrt sich gegen den Vorwurf, in ihren Memoiren stehe nichts wirklich Neues. Dann würden die Leute mit Blick auf ihre Regierungszeit doch sagen: „Sie hat uns belogen, die eigentlichen Dinge hat sie uns vorenthalten.“ Und es klingt der Stolz der Autorin durch. „Wenn man’s in der Hand hält, so’n Schmuckstück“, sagt sie über das Buch, „dann steht man vor sich selbst so’n bisschen Parade.“ Nicht nur dieser Satz klingt an diesem Abend deutlich unterhaltsamer als der staatstragende Duktus, in dem weite Passagen des Buchs geschrieben sind.
Der Ort, an dem Angela Merkel ihre Sicht auf ihr Leben der Öffentlichkeit präsentiert, hat einen biographischen Bezug. Im Deutschen Theater sammelte sie ihre frühen Theatererfahrungen, hier sah sie in jungen Jahren den Schauspieler Hilmar Thate als Richard III., hierhin kam sie auch in ihrer Zeit als Kanzlerin. Mit dem langjährigen Ensemblemitglied Ulrich Matthes ist sie persönlich befreundet. Für die Weggefährten gibt es zum Ausklang im Theaterfoyer noch einen Empfang.
Und die Bühne liegt nicht weit entfernt von der Marienstraße. Dort wohnte die junge Merkel mit ihrem Ehemann Ulrich, dessen Nachnamen sie bis heute trägt. Es ist eine hübsche und zugleich aussagekräftige Anekdote, die sich im Buch zu dieser Wohnung und zu Ulrich Merkel findet. Das Paar wohnte zu DDR-Zeiten im dritten Stockwerk, eine Toilette gab es nur im Erdgeschoss. Ulrich Merkel habe handwerkliches Geschick bewiesen, schreibt Merkel und schildert, wie beide mit vereinten Kräften dem Missstand Abhilfe geschaffen haben. Das liest sich hübsch. Das Folgende nicht. Kurz und kühl beschreibt sie, wie sie Wohnung, ihren Mann und ihr bisheriges Leben veriss.